Dem Rufe seines Großmeisters folgend (der HB 78 berichtete), reichte Landkomtur Wentorius von Waldhort beim Fürsten seine Bitte um Abschied als Landesherr der Ballei Sengenberg ein. Anlässlich eines kurzen Besuches in Triburk, stimmte seine Durchlaucht dem Gesuch ohne Verzug zu und bestätigte sogleich den jungen Templer Ritter Herse von Gundelan als Nachfolger. Ritter Wentorius von Waldhort, sowie eine große Zahl sengenberger Kriegerbrüder, verließen beritten noch zur Morgenstunde des nächsten Tages das Land.
Boten-Teil: Drachenhainer Herold
Nach sechsjähriger Lehrzeit und Erziehung im Rittergut Pfauenkamm zu Tlamana, sahen Fürst Leomar und Baronin Leabell die Zeit gekommen, ihren 13-jährigen Erstgeborenen gen Drachenhain zu rufen. Im Lande seiner Vorväter soll der Prinz fortan nach und nach an die Regierungsgeschäfte des Vaters herangeführt werden. Seinem ausdrücklichen Wunsche folgend, wird Prinz Halmar Arwell zunächst in der Hauptsache die Drachentrutzer Knappenschule besuchen und dort auch bis zum Tag seiner Schwertleite untergebracht sein. Daneben werde es aber immer wieder Lektionen an der Seite seines Vaters geben. Ebenso seien Reisen durch die Baronien des Fürstentums geplant, damit seine Hochgeboren Land und Leute, sowie deren Sorgen und Nöte, kennenlernen könne.
Übergroßen Dank sprach die Drachenhainer Familie Ritter Arno von Tauenfeld und Ritter Notker von Golbach, sowie den Magistern der Academie Rei Praeheliotica, aus. Ihnen oblag seit 39 n.A.III Erziehung und Obhut des Prinzen, und fürwahr treffliche Arbeit haben sie geleistet!
Wann genau der Prinz auf der Feste erwartet wird, sei derzeit noch offen. Es heißt, Halmar werde im Winter seine Eltern zur Herrscherbegegnung nach Escandra begleiteten.
Wie in einem letzten Botenartikel dargestellt, winkte den Rebenhainer Winzern diesen Herbst eine gute Ernte. Das Wetter machte keine größeren Kapriolen, welche die Ernte beeinträchtigten und daher fiel die Lese auch gut aus.
Nun präsentierten einige Winzer unter Mitwirkung des Haushalts des Barons eine neue Weinsorte: Den Rundedling. Es handelt sich um eine von langer Hand neu gezüchtete Rotweinsorte, die jetzt das erste Mal auf ausreichend großer Fläche angebaut wurde. Wein besticht durch seine Vollmundigkeit, ist fruchtbetont und harmonisch ausbalanciert. Seine Hochwohlgeboren war bei der Präsentation persönlich anwesend, lobte den Erfindungsreichtum und die Hartnäckigkeit der rebenhainer Winzer. „Diese Flaschen werden in weiter Fernen reisen und in vielen Ländern des guten Geschmacks gekauft und gern werden. So mehren wir den Ruhm unseres Ländchens und des Königreichs.“ Dann hob seine Hochwohlgeboren den Becher und alle Anwesenden tranken gern auf das Wohl des Reiches.
Die viel beschworene und immer wieder und immer wieder verschobene Ausrufung des neuen Lehens soll nun endgültig auf Ende dieses oder Anfang des nächsten Jahres stattfinden, voraussichtlich an Siochan oder Mittsommer. Dies bestätigten Baron, Clansoberhäupter und die zukünftige Lehensnehmerin Eylwine von Esclarmond in den Vorbereitungen auf das heligonische Herrschertreffen.
Was in vielen anderen Baronien ein einfacher Verwaltungsakt gewesen wäre, war in Luchnar aufgrund der Hintergründe – ein Lehen tieflandstämmiger Menschen im Hochland – ein Politikum ersten Ranges. Dies war der Hauptgrund der fortwährenden Verzögerung, hinzu kam die Notwendigkeit, das Lehen wirtschaftlich auf weitgehend unabhängige Füße zu stellen.
Letztlich scheint die Verschleppung aber der richtige Weg gewesen zu sein. Zum einen war im letzten Sommer das zukünftige Lehen erstmals wenigstens dicht an der wirtschaftlichen Selbständigkeit. Zum anderen wird die Gründung nun von allen drei Clansoberhäuptern ohne Einwände mitgetragen und alle bis auf die konservativsten Hochländer haben offenen Widerstand aufgegeben. Hierzu trägt sicher auch bei, dass der Segen der Götter offensichtlich auf den wenigen Mischehen wie der von Gisrod von Soilach und Liolyn MadUaine und der von Jerrad MadRuadh und Annerös von Nybelschütz liegt.
Was lange undenkbar und dann lange Streitpunkt und Ärgernis war, könnte nun tatsächlich, zumindest weitgehend, ein Akt von Frieden, Eintracht und Aufbruch werden.
Als die Imkerin Pinova Förster zur Mitte des ll. Xurl bei ihren Bienenstöcken auf der Anhöhe hinter dem Garten der Poena zu Apfelstett nach dem Rechten sehen wollte, traute sie ihren Augen nicht: Einer der vier Bienenstöcke, die sie dort seit Jahren gehegt und gepflegt hat, war wie vom Erdboden verschluckt. So schnell ihre alten Beine sie trugen lief sie hinunter ins Dorf und fragte in allen Gehöften nach, ob jemand etwas gesehen oder gehört hätte. Doch niemandem war etwas ungewöhnliches aufgefallen.
Der Schultheiß selbst ging hinauf zum Garten der Poena um nach Spuren zu sehen, doch vergebens. Außer dem Fehlen der Bienenstocks gab es keinerlei Hinweise.
Da es sonst nichts zu tun gab, suchte Pinova auch die anderen Stellen auf den Streuobstwiesen und am Waldrand ab, an denen ihre Bienenkörbe standen. Erleichtert stellte sie fest, dass nur das eine Volk fehlte.
Doch als sie zwei Wochen später erneut ihre Runde drehte, fehlte ein weiteres Bienenvolk, diesmal vom Waldrand. Wieder zwei Wochen später fehlte eines von der Wiese. So beschloss sie, alle Bienenstöcke über den Winter zu ihr nach Hause zu bringen, um keine weiteren Verluste zu erleiden. Im Frühjahr jedoch wird sie sie wieder in den Fluren um das Dorf herum verteilen müssen. Noch weiß sie nicht, wie sie ihre Bienen dann vor dem Diebesgesindel schützen soll.
Noch ist nicht damit zu rechnen, dass dies Auswirkungen auf die Preise für Apfelstetter Met haben wird. Sollte das Rauben jedoch weitergehen, ist mit dem Schlimmsten zu rechnen.
Energisch schritt Burgvogt Kerstan von Tuachall dem Bestreben mancher Drachentrutzer Bürger entgegen, eine Freiwilligenmiliz wider die „feindlich gesonnenen Angriffen aus dem Süden“ auszuheben. Im kleinen Ratsaal der Handwerkergilde war hierzu am 20. Tag des I. Xurlmondes, 45 n.A.III, eigens eine offene Versammlung anberaumt worden, zu welcher auch der Burgvogt geladen worden war. Verärgerte Augenzeugen berichteten zu Beginn der Veranstaltung von einer Reihe heimtückischer Angriffe auf Leib und Leben harmloser Mauerdienstler, bei deren Ausübung ihrer Wartungspflichten, und listeten Fälle von widerwärtigen Beschmutzungen an den meist südlichen Burganlagen auf.
Schnell wiesen konkrete Anschuldigungen in Richtung der „verdammten antrutzer Pfeffersäcke“ und es fanden grobe, dem hitzigen Moment geschuldete Sühne- und Abwehrmaßnahmen Erörterung. Großen Zuspruch erfuhr da die Idee zur Bildung einer Einheit Freiwilliger, die nächtens mit Knüppeln bewaffnet Patrouillen um die Feste laufen.
Diese und andere Anträge unterband Burgvogt Kerstan jedoch grundsätzlich und in eindringlichem Tone: „Solch einen Unfug wird es auf der Feste nicht geben!“
Mehrnoch drohte er massive Strafen bei entsprechenden Zuwiderhandlungen an, dann würde es „…Auch aus dem Innern der Feste Stockhiebe setzen!“
Allein damit scheint das Problem der Antrutzer-Drachentrutzer Gegensätze jedoch nicht gelöst, Ideen zur grundsätzlichen Klärung der Angelegenheit ließ Burgvogt Kerstan hingegen vermissen.
Nachdem es auf dem Glefenbacher Markt lange Zeit eher beschaulich zuging und die Marktwache in der Regel nicht mehr zu tun hatte, als gelegentlich einem Betrunkenen den Ausgang aus dem Marktflecken zu zeigen, hat der Marktaufseher nun die Mannstärke binnen weniger Monate verdreifachen müssen. Immer wieder kam es in letzter Zeit zu Streit und Pöbeleien, ja sogar zu Diebstahl und mutwilliger Zerstörung.
Zum einen ist das sicher der zunehmenden Bedeutung des Marktes geschuldet, der nun – wie die Märkte in großen Städten schon seit jeher – neben den Händlern und Kunden auch allerlei Gesindel anzieht, das seinen zwielichtigen Geschäften nachgeht.
Zum anderen ballen die Händler immer öfter die Fäuste Richtung Drachentrutz, und beschuldigen die dortige Jugend, immer wieder für vielerlei Aufruhr auf dem Glefenbacher Markte die Verantwortung zu tragen.
Die Marktleute begrüßen die Verstärkung der Wache, obwohl dadurch ihre Abgaben sicher nicht unerheblich steigen werden. Lioba Kornzähler, Urgestein unter den Glefenbacher Händlern und Sprecher der Marktleute, sagte uns dazu: „Der Marktfriede muss gesichert sein, alles Andere verschreckt nur unsere ehrbare Kundschaft. Außerdem sind das nur bedauerliche Einzelfälle. Auf unserem Markt ist jeder sicher. Unsere sechs Marktwachen und der Nachtwächter sorgen dafür und wir von der Marktleutevereinigung unterstützen Sie dabei nach Kräften.“
Hinter vorgehaltener Hand heißt es jedoch auch immer öfter: „Notfalls bauen wir eben eine Mauer um den Markt und lassen die Drachentrutzer dafür bezahlen.“
Gerüchte eilen bekanntlich schneller als der Wind, und da die Nachricht vom Bruch des Waffenstillstands zwischen Stueren und der Allianz vermutlich schon in alle Ecken unterwegs ist, erscheint es mir notwendig, die Ereignisse von Orlatas aus erster Hand zu berichten. Den Grund für meine Anwesenheit dort und die religiösen Hintergründe möge der interessierte Leser meiner kurzen Abhandlung über den Borharcônischen Glauben entnehmen.
Dreh- und Angelpunkt der Ereignisse war die geheim gehaltene Anwesenheit Meortes, letzter Sproß der Herrscherfamilie der Borharcôner, gejagt und verfolgt von der Stuerener Besatzungsmacht. Das Kind war von seinem sicheren Zufluchtsort in Heligonia auf Wunsch der Arazsla Atma in seine Heimat gebracht worden. Sie erklärte mir auf meine besorgte Frage hin, dass das Kind als zukünftiger Herrscher schließlich sein Volk und seine Sitten kennenlernen müsse. Einleuchtend und nachvollziehbar, aber auch ein nahezu unverantwortliches Risiko, wie die kommenden Ereignisse zeigen sollten.
Zum einen war während der Feierlichkeiten eine Abordnung Stuerener Wächter anwesend, die alle Handlungen mißtrauisch beobachteten und unmißverständlich klar machten, dass jede Andeutung von Aufmüpfigkeit streng geahndet werden würde. Die meisten Borharcôner bemühten sich sichtlich, diese so deutliche Präsenz der Besatzungsmacht zu ignorieren, dennoch herrschte eine angespannte Atmosphäre. Höhepunkt der Feierlichkeiten war die theatralische Darstellung der letzten Schlacht der Borharcôner gegen Stueren, die in allgemeines Wehklagen über die Niederlage mündete. Sei es, dass sie sich schon vorher verabredet hatten oder nur von der Darstellung mitgerissen wurden, begannen plötzlich einige junge Männer vom Stamm der Lenmeri, die Anwesenden zur Rebellion aufzustacheln. Sie knieten vor Meorte nieder und riefen ihn zu ihrem Kriegsherrn aus. Erschrocken über die plötzliche Aufdeckung des Geheimnisses, versuchten etliche Borharcôner, die Aufrührer zum Schweigen zu bringen. Einer jedoch zog zur Bekräftigung seiner Absichten einen Dolch, stürzte sich auf einen Stuerener Wächter und tötete ihn. Im darauf folgenden Handgemenge gelang einem weiteren Stuerener die Flucht, was die Lage augenblicklich verschärfte.
Obwohl wir, der Orden des Lichts und auch Herr Leonidas von Rabenweil mit Provokationen von beiden Seiten gerechnet und uns auch für alle Fälle in Meortes Nähe aufgehalten hatten, waren wir nicht auf einen offenen Mord gefaßt gewesen, schlimmstenfalls auf eine Prügelei. Mein Versuch einer verbalen Deeskalation scheiterte deshalb auch schlichtweg an der Entschlossenheit des Mörders, vollendete Tatsachen zu schaffen: Als wir das Blitzen des Dolches sahen, war es bereits zu spät.
Wie erwartet tauchte einige Zeit später eine größere Abordnung Stuerener Wächter auf und forderte die Herausgabe Meortes, der wir natürlich nicht stattgaben. Erste Angriffe konnten erfolgreich abgewehrt werden. An dieser Stelle gebührt ein großes Lob unseren Kämpfern und Bogenschützen, die das Kind tapfer und ausdauernd verteidigten. Leider stellte sich aber auch heraus, dass kaum Heilkundige anwesend waren, was uns immer wieder in größte Schwierigkeiten brachte.
Da wir aufgrund anderer Ereignisse, die noch erläutert werden sollen, gezwungen waren, vor Ort zu bleiben, wurden wir am nächsten Tag wie befürchtet mit Truppen des Roten Jägers konfrontiert. Zwar gingen wir auch hier letztendlich siegreich hervor, doch hätte ein noch längeres Verweilen in Orlatas sicher zu unserer Niederlage und zur Auslieferung oder dem Tod Meortes geführt. Entsprechend froh waren wir, den Ort zusammen mit dem Kind schließlich verlassen zu können.
Die Gründe, die uns zwangen, in Orlatas auszuharren, waren indessen völlig anderer Natur: So tauchte am Abend des Festes plötzlich eine archaisch anmutende Gruppe Krieger auf, die sich als „Blutfalken“ bezeichneten. Auch sie forderten die Herausgabe Meortes, um ihn in ihren eigenen Reihen zu einem der Ihren auszubilden. Die erstaunten Arazslaken erklärten, die Blutfalken seien einst die Garde der Herrscher gewesen und waren wegen ihrer Loyalität und Grausamkeit berüchtigt und gefürchtet. Jedermann wäre froh, dass sie nicht mehr existierten. Was die Krieger aber offensichtlich nicht davon abhielt, nun vor dem Tor zu stehen! Auch ihnen verweigerten wir die Herausgabe Meortes und erhielten dafür ein Ultimatum bis zum Morgen.
Ein Abzug aus Orlatas kam jedoch nicht in Frage, da die Arazslaken übereinstimmend aussagten, die Blutfalken würden Meorte aufgrund seines königlichen Blutes überall hin folgen und finden können. Es erschien uns deshalb sicherer, vorerst innerhalb der schützenden Palisaden zu verbleiben und das Problem vor Ort zu lösen.
Zu unserem Glück nahm ihr Arazsluk ohne das Wissen seiner Truppe Kontakt zu uns auf. Aus seinen Andeutungen schlossen wir, dass die Blutfalken offenbar aus ihrer letzten Schlacht vor etwa 150 Jahren plötzlich hierher versetzt worden waren und nun über den Zustand ihres Volkes entsetzt wären und dies mit der Erziehung Meortes ändern wollten. Es gelang uns leider nicht, Näheres über das Warum und Wie dieser „Versetzung durch die Zeit“ herauszufinden, beziehungsweise wer hinter diesem Plan steckte oder was das Erscheinen genau auslöste. Dies muß leider ein ungelöstes Rätsel bleiben, wenngleich uns die „Feenkönigin“ in den Sinn kam, die uns in Orlatas ja schon einmal in Schwierigkeiten gebracht hatte.
Am nächsten Morgen erreichten wir mit Hilfe eines alten Borharcôner Brauches ein friedliches Kräftemessen: Es existieren zwölf sogenannte Kleinodien, mehr oder weniger heilige Artefakte aus der Geschichte der Borharcôner. Ihr Besitz untermauert gewissermaßen Recht und Wahrheit streitender Parteien. Den Großteil des Tages verbrachten wir also mit Suchen, Sammeln und Erobern dieser Kleinodien, die auf die verschiedensten Arten erlangt werden konnten, immer im zeitlichen Wettkampf mit den Blutfalken. Tatsächlich schafften wir es, mehr Kleinodien als die Gegner in unseren Besitz zu bringen, und der Anführer der Blutfalken erkannte unseren Sieg an. Weit entfernt von ihrer Zeit und nun jedes Daseinsgrundes beraubt, begann der Anführer, seine ihm völlig ergebenen Gefolgsleute zu töten. Martin Dorn und einige andere boten ihnen hierauf einen ehrenvollen Tod im Kampf an, worauf es zu mehreren Zweikämpfen kam. Die Leichen der Blutfalken wurden in einer bewegenden Zeremonie verbrannt, und dieses dunkle Kapitel der Borharcôner Geschichte damit abgeschlossen.
Was nun den Bruch des Waffenstillstandes anbelangt, so ist dies meines Erachtens schwer zu interpretieren. Einerseits handelte es sich um einen versuchten Aufstand der Borharcôner gegen ihre Stuerener Besatzungsmacht, der sicher geahndet werden wird, zum Schaden aller Borharcôner. Auch die stammesinterne Bestrafung des Mörders wegen Verletzung des Gastrechts dürfte daran nichts ändern. Dies würde jedoch nicht den Waffenstillstand zwischen Stueren und der Allianz berühren. Allerdings waren in Orlatas auch Vertreter der Drachenhainisch-Ostarischen Allianz anwesend und wurden durchaus in die Kämpfe gegen Stueren verwickelt, um Meorte zu schützen. Mehrere Dutzend tote Stuerener auf der Walstatt lassen sich auf beiden Seiten schwer verleugnen. Wenn Stueren einen Grund sucht, den ohnehin brüchigen Waffenstillstand mit der Allianz aufzukündigen, wird es ihn in Orlatas finden.
Um die Gedankenwelt und Vorstellungen, die Verhaltensweisen und Prioritäten eines Volkes zu verstehen, ist ein Blick auf seine Religion sicher interessant und hilfreich. Als ich als gläubige Ogedin durch die Arazsla Atma in die Sippe der Lotrac vom Stamm der Lenmeri aufgenommen wurde, war ich gespannt und neugierig, mehr über den Glauben der Borharcôner zu erfahren.
Ihr Schüler Kemren hatte mir damals angedroht, was jenen passieren könne, die nicht dem Ruf eines Arzsluk folgen. So war ich froh, dass mich Atmas Traumbote ereilte, als ich mich bereits auf dem Weg nach Gösta befand, um dort erstmals am großen Stammestreffen teilzunehmen. Dieses wurde jedoch aufgrund von Überschwemmungen abgesagt, und so traf ich mich mit meiner neuen Sippe in der mir bereits bekannten Siedlung Orlatas.
Die Ereignisse dort, die zum Bruch des Waffenstillstandes führten, sollen an anderer Stelle berichtet werden, hier stehe der Glaube der Borharcôner im Vordergrund.
Der größte Unterschied zu unserer Religion ist wohl, dass die Borharcôner an die Wiedergeburt glauben, wenn es auch nicht so einfach ist, wie es klingt. Bei den Ogeden gelangt die Seele nach dem Tod bekanntermaßen zu Helios, der über sie urteilt. Je nachdem erhält sie einen Platz als Stern am Himmel, in Poenas Garten oder an Saarkas Kriegertafel. Im schlimmsten Falle wird sie vom Untier Zyberus verschlungen. Wie auch immer, so scheint es doch, dass die Verstorbenen nach ihrem Tod kaum mehr Interesse an der Welt der Lebenden zeigen.
Ganz im Gegensatz dazu teilt sich der Geist der Borharcôner in drei Teile auf, von denen einer als Ahnengeist zurückbleibt und weiterhin am Leben seiner Sippe teilnimmt. Diese Taal-Seele kann von den Schamanen, genannt Arazslaken, gerufen und um Hilfe gebeten werden. Berühmte Ahnen haben entsprechend Macht und werden hoch verehrt, sie können in Gegenständen und Erinnerungsstücken wohnen.
Die zweite Seele ist für das Leben an sich, Atmung, Herzschlag, Wärme und dergleichen zuständig, das, was bei uns auch scherzhaft „Lebensgeister“ genannt wird. Diese Amnu-Seele fliegt beim Tod in den Weltenbaum und wartet dort auf die Wiedergeburt, um einen neuen Körper zu beleben.
Die dritte, die Sal-Seele beherbergt die eigentliche Persönlichkeit. Die Sal-Seele bildet mit einer Amnu-Seele eine neue Einheit, eine weitere Taal-Seele entsteht, und der Borharcôner-Geist ist wieder vollkommen. Angeblich können sich die Sal-Seelen an ihre vorigen Leben erinnern. Ich habe jedoch noch keinen Borharcôner getroffen, der mir entsprechende Erlebnisse erzählt hätte.
Außerdem, um die Sache noch verwirrender zu machen, besitzen die Arazslaken eine vierte Seele, die sie bei ihrem Tod an ihren Nachfolger weitergeben, was ich eindrucksvoll erleben konnte.
Ich begegnete selbst auch einem Wesen, das ein uraltes Artefakt hütete, aber keinesfalls ein lebendiger Mensch war. Ich bin mir nicht ganz sicher, ob es sich dabei um einen Ahnengeist oder eine Sal-Seele in menschlicher Gestalt handelte, sie hatte jedenfalls viel Persönlichkeit.
Die Welt stellen sich die Borharcôner in drei Teilen vor, der Ober-, der Unter- und der Mittelwelt, in selbiger wir uns befinden. Ober- und Unterwelt sind dabei in je sieben Ebenen aufgeteilt. Je weiter man sich von der Mittelwelt entfernt, um so weniger ähneln die Ebenen unserem Diesseits. Konkret konnte ich nur erfahren, dass sich in der siebten Ebene der Unterwelt die Yurtenstadt befindet, in der die verlorenen Seelen hausen, die der „Schwarzen Mutter“ dienen. Den Arazslaken ist es möglich, mit Hilfe von Tiergeistern die Ebenen zu bereisen. Zusammengehalten werden all diese Ebenen durch den Weltenbaum, den man sich als eine Art Nabel oder Achse vorstellt.
Da der Ogedische Glaube das Reich der Götter, Saarkas Unterwelt, und das Hochland auch noch eine „Anderswelt“ kennt, ist die Borharcônische Vorstellung von Ebenen vielleicht gar nicht so fremdartig, wie man zunächst meint.
An Göttern wurden mir bekannt:
Andruch, der Himmelsgott – der mächtigste Geist, der auch das Schicksal der Menschen beeinflußt
Akemrin, die Erdmutter – zuständig für alles Leben, gut mit Poena vergleichbar
Liomne, deren Tochter – Hüterin des (Herd-)Feuers, ihr Rauch symbolisiert den Weltenbaum
Yom, weitere Tochter – Schutzherrin der Schwangeren, sie hütet die Seelen bis zur Wiedergeburt
Ayek, die Schwarze Mutter – Gegenspielerin Yoms, will die Mittelwelt, also unsere, beherrschen und muß daran gehindert werden
Nagy (w.) und Agy (m.), Sonne und Mond – sie gelten als die ersten Ahnen und werden gern in Dingen des Alltags angerufen
Darüber hinaus scheint es noch eine Vielzahl weiterer Götter, Ahnengeister, Stammes- und Sippengeister, gute wie böse zu geben. Ihre Wohnstätten sind in den verschiedensten Ebenen sind wenigstens den Arazslaken wohlbekannt.
Die Borharcôner verehren ihre Götter durch Rituale und Opfergaben wie Tee, Milch oder auch Tieropfer, bevorzugt an außergewöhnlichen Orten wie einem Berg, See oder Felsen. Auch darin wieder eine Ähnlichkeit zu Ogedischen Schreinen, die gerne bei Quellen oder alten Bäumen errichtet werden.
Die Aufgabe der Arazslaken besteht nun nicht darin, diese Opfer zu vermitteln, sondern das Gleichgewicht der Welten zu sichern, auch sind sie als Heiler tätig. Ihre Fähigkeit, zwischen den Ebenen zu reisen, hilft ihnen dabei. Die Krankheiten des Menschen werden durch ein Ungleichgewicht der einzelnen Seelen erklärt.
Außerdem scheint es sowohl Weiße als auch Schwarze Arazslaken zu geben. Erstere wirken zum Wohle der Menschen und der Welten, letztere verfolgen ihre eigenen Wege und richten oftmals viel Unheil an.
Atma, die Arazsla, die ich näher kennenlernen durfte, rief mich also mit Hilfe eines Traums zu sich, so wie die anderen Mitglieder ihrer Sippe. An ihrem Lager sprach sie mit jedem einzelnen, verteilte Aufgaben und nahm gleichzeitig Abschied. Sie sprach zu mir über ihre Sorgen und dunklen Vorahnungen und stellte mir Fragen zu unserem Glauben. Als ich ihr sagte, unsere Toten würden Sterne am Himmel werden, lachte sie und meinte, das wäre zwar eine schöne Vorstellung, aber viel zu weit weg von ihren Lieben. Angesichts der sich überschlagenden Ereignisse war sie in großer Sorge, uns nicht mehr helfen zu können. Am nächsten Vormittag waren wir in ihrer Yurte versammelt und begleiteten sie in ihrer letzten Stunde. Sie gab uns bis zuletzt Ratschläge und tröstende Worte, und jeder der Anwesenden würde ihren Tod dort bezeugen. Zu aller Überraschung und auch dem Entsetzen mancher richtete sich die Tote aber nach einiger Zeit wieder auf, betrachtete ihre Hände und sagte „Ich habe den Tod überlistet“, wobei sie selbst am meisten erstaunt schien. Was auch immer passiert ist, Atma wurden noch mehrere Stunden Lebenszeit geschenkt, die wir aufgrund der Bedrohung der übernatürlichen Feinde gut gebrauchen konnten.
Letztendlich hatte ich den Eindruck dass diese Arazsla den Zeitpunkt ihres Todes sehr genau bestimmen konnte. So erwählte sie gegen Ende des Tages einen ganz bestimmten Platz „unter dem Himmel“ und ließ sich dort neben ihrem Nachfolger Kemren nieder. Sie verschenkte ihre Besitztümer, Amulette und mächtige Gegenstände, in denen Geister wohnten, an Kemren und die anderen Arazslaken, versammelte ihre Sippe um sich und schied stehend, mit einem gewaltigen Schrei aus dem Leben. Von allen Borharcônern wurde Atma als die Älteste und Weiseste unter ihnen bezeichnet, und ich bin dankbar, dass ich diese außergewöhnliche Frau ebenfalls kennenlernen durfte.
Nicht wenig erstaunt war der Glefenbacher Fuhrmann Ingfred, als er – wie mehrmals im Jahr – am 27. des III. Saarka mit seinem Ochsenfuhrwerk eine Ladung Buchweizen über die neue Straße nach Schwarzsee karren wollte.
Natürlich hatte er damit gerechnet, dass es nach den ausgiebigen Regenfällen der letzten Wochen hier und da ein paar Stellen gibt, an denen auf der nur dürftig befestigten Straße die Räder etwas tiefer als sonst einsinken. Darum hatte er auch zwei kräftige Helfer mit Schaufeln dabei, die gemächlich neben dem Fuhrwerk entlangtrotteten und allzu matschige Stellen geschwind ausbessern könnten. Sie waren schon bei Morgengrauen aufgebrochen, auf dass sie bis zur Dämmerung auch sicher an ihrem Ziel ankommen würden.
So ging es zunächst recht zügig dahin. Auf der hervorragend ausgebauten Aximistiliusstraße ohnehin, und zunächst auch von der Abzweigung den dicht bewaldeten Hang hinauf Richtung Schwarzsee. Das ein oder andere Mal kamen die Schaufeln zum Einsatz, doch das war um diese Jahreszeit nichts Ungewöhnliches. Auch einen vom Sturm entwurzelten Baum, der die Straße versperrte, konnten sie mit dem kleinen Fuhrwerk noch umfahren.
Doch kurz bevor sie in einer natürlichen Scharte zwischen zwei Felswänden die Passhöhe des Weges erreichen hätten sollen, stießen sie auf ein Hindernis, das die drei Mann mit ihren zwei Schaufeln unmöglich beseitigen konnten: Es war als hätte der Berg den Weg verschluckt. Denn die Straße führte nun geradewegs hinein in einen mehrere Meter hohen Haufen aus Lehm und Geröll, der den Pass komplett versperrte. Einer der Begleiter kletterte auf den Geröllhaufen, um herauszufinden, wie breit der Erdrutsch denn war und wieviele Leute und Zeit man denn wohl brauche, um den Weg wieder passierbar zu machen. Doch das Hindernis war so groß, dass er es nicht einmal bis ganz nach oben schaffte. Unverrichteter Dinge musste der Fuhrmann also mit seinen Gehilfen umkehren.
Der neue Weg nach Schwarzsee ist damit auf unbestimmte Zeit gesperrt. Bis auf weiteres ist nun wieder der alte Weg durch die Schwarzbachklamm, der bekanntermaßen nur zu Fuß begehbar ist, die einzige Möglichkeit das Hochtal von Schwarzsee zu erreichen.
An eine Räumung des Erdrutsches ist vor dem Frühling nicht zu denken. Doch auch danach ist die Zukunft des Weges offen: Denn spätestens seit der Xurlgeweihte von Schwarzsee in der Kanzlei der Antrutzen vorstellig wurde, um zu fordern, dass die neue Straße aufgegeben werde, mehren sich die Stimmen, alles so zu belassen wie es ist. Denn es sei gegen Xurls Willen gewesen, dass die neue Straße errichtet werde, so habe er sie durch seine göttliche Kraft zerstört und Xurl werde auch weiterhin diese Straße nicht dulden. Diesmal sei es glimpflich ausgegangen, doch sollte man versuchen, die Straße wieder nutzbar zu machen, könnte das schlimme Folgen für die Beteiligten haben.
In der Tat hatten die Geweihten schon vor der Errichtung des neuen Weges davor gewarnt, die Bedeutung des alten Xurl-Schreins am Weg durch die Schwarzbachklamm durch den Bau eines neuen Weges zu verringern, da Xurl dadurch verärgert werden könne. Nach Ansicht der Schwarzseeer ist das nun eingetreten.