Als die Welt noch jung war, hauchte Saarka einigen Geschöpfen mit sanftem Wind Leben ein, auf dass sie ihre Schuld an den Tumulten tilgen möge, die während der Schöpfung der Welt von ihr daselbst verursacht worden waren. So berichten die Ogeden-Priester seit uralter Zeit über die Entstehung der Menschen.
Es gibt Angehörige des Shamanka Clans, jenes Clans in Sedomee, der seit jeher sich um die Pflege des heiligen Haines kümmert, die davon berichten, in der Nähe von Eibenbäumen, bei uns genannt Khashab, eine gewisse Präsenz, ja gar Zuneigung Saarkas – so dies denn möglich ist – zu empfinden. Auch heißt es unter der Landbevölkerung gelegentlich, man solle sich bei Vollmond und ganz besonders in den Nächten rund um die Crelldinornacht nicht unvorsichtig den Eiben nähern und falls es keinen Umweg gäbe, selbst wenn die Gegend einem vertraut wäre, sich lieber vorsichtshalber laut und ehrerbietig vorstellen und angeben, warum man sich nähere. Andernfalls könne man versehentlich in die Unterwelt geraten – ohne Wiederkehr, versteht sich.
Vernehmt nun folgende Erzählung, die da heißt:

Der hundertjährige Eibenbaum
Es war einmal ein hundertjähriger Eibenbaum, der trug sowohl männliche als auch weibliche Blüten, was zu dieser Weltenzeit noch seinem üblichen Wesen entsprach. Diesen Baum besuchten nun regelmäßig Menschen von nah und fern, aus vielen verschiedenen Clans und Sippen, die von ihm gehört hatten, denn der Baum war ein Lehrer.
Er lehrte die Menschen, die zu ihm kamen, die Gaben der Götter zu ehren, ja, sich an ihnen derart zu freuen, dass sie fast wie von Sinnen wirkten oder glaubten, einen flüchtigen Einblick in die Unterwelt erhalten zu haben. Er lehrte sie, die Jahreszeiten zu beobachten, und gleich ihnen stets ihr ehrliches Gemüt zu zeigen, sei es sanft oder tobend, aber einander genauso schnell wieder zu vergeben. Und der Baum lehrte diese Menschen auch, dass die Gemeinschaft des Clans ewiglich besteht und doch ewig im Wandel begriffen ist, denn mehrere Generationen zugleich sind in ihm verbunden im ewigen Kreislauf des Wachsens und Vergehens. Und ganz besonders dies: ein jeder solle alle Clanschwestern und -Brüder gleichermaßen achten, in Vergangenheit bis an den Anfang der Welt und in Zukunft bis an ihr Ende.
Unglücklicherweise begab es sich jedoch, dass mehrere der Sippen, die regelmäßig zu dem Baum gekommen waren, diesen ganz für sich beanspruchen wollten. Eine besonders entschlossene unter ebendiesen schmiedete einen tolldreisten Plan, den Baum auszugraben und in eine Höhle zu setzen, die nur ihnen selbst bekannt sein sollte.
Ein Mädchen namens Nesrin, das es sich zum Brauch gemacht hatte, wegen der abenteuerlichen Träume, die der Baum schenkte, eingerollt zwischen dessen Wurzeln zu schlafen, hörte zufällig einige Worte darüber mit. In ihrem Entsetzen weinte sie heftig und weckte damit auch den Baum aus dem Dämmerschlaf.
“Schwestern verraten Schwestern und Brüder verraten Brüder? Dies ist nicht, weshalb ich in diese Welt gekommen bin und auch nicht, was ihr von mir lerntet!” donnerte die Eibe und rief sogleich die Göttin Saarka um Hilfe an. Diese entfesselte daraufhin einen heftigen Sandsturm, der volle zwei Jahre andauerte.
Als sich die letzten Sandkörner endlich gelegt hatten, sahen die Menschen, dass der Stamm des Baumes nun in zwei gespalten war, von der Krone bis zum Boden, obgleich er noch zu leben schien. Die beiden Hälften aber bogen sich wie in heftiger gegenseitiger Abscheu voneinander weg. Auch die Natur des nun gespaltenen Baumes schien sich vollkommen gewandelt zu haben.
Die eine Hälfte trug hernach stets mehr und saftigere Blätter und Blüten als ihr Gegenüber, da ihre Wurzeln sich nach und nach in Richtung einer bisher verborgenen Wasserader gruben. Auch fand man an dieser Hälfte weiterhin die roten Beeren, die die Menschen vormals als eine der traumschenkenden Gaben geehrt hatten, die nun aber giftig geworden waren und nur noch von Saarkani mit besonderem Wissen angerührt werden konnten. Mit Worten sprechen konnte diese Hälfte ebenfalls nicht mehr, doch besuchten sie einige treue Menschen weiterhin und pflegten sie, da sie den Baum wie eine ihrer Clanschwestern betrachteten.
Die andere Hälfte dagegen konnte sehr wohl noch sprechen, gab nun aber mit einer gewissen Regelmäßigkeit allerhand Gerede bis hin zu düsteren Weißsagungen von sich, was die Menschen verwirrte – wie der Hinweis an einen Bauern, sein Burei leide unter heftigem Husten und bräuchte dringend einen Einlauf – und gelegentlich ängstigte – wie der Ausruf, die dunkle Zeit der Dattelpest stünde unmittelbar bevor. Karg war das Erscheinungsbild dieser Hälfte des Baumes, weshalb einige Menschen versuchten, ihn mit dargebrachten Datteln zu nähren oder mit Bureimist zu düngen. Gierig schien der Baum die Nahrung aufzusaugen und fragte gelegentlich auch nach mehr, verblieb indes aber in dem Zustand wie zuvor. Schließlich begannen die Menschen, die dürren Äste mit allerhand bunten Bändern und glitterndem Tand zu behängen, um den Baum aufzumuntern, da sie ihn wie einen ihrer Clanbrüder betrachteten.
Nesrin, bald zur jungen Frau gereift, schlug ihr Lager in der Nähe der zwei Bäume auf – denn als solche wurde der Eibenbaum nun von den Menschen betrachtet – und wiederholte jedem, der es hören wollte, die Lehren des Baumes an die sie sich erinnern konnte Wort für Wort.
Eines Nachts fiel ihr während sie schlief eine der Beeren in den Mund, doch sie erwachte erst am Morgen und es war bereits zu spät. Ihr Körper schüttelte sich vor heftigen Krämpfen und bevor sie starb erzählte sie den Menschen, die ihr zu Hilfe geeilt waren, unter großen Mühen noch von dem letzten Traum, den ihr geliebter Baum ihr geschenkt hatte:
Sie hatte alle Clans und Sippschaften erblickt, die den Baum in seinem langen Leben aufgesucht hatten und diese formten ein endloses Band bis zum Horizont und an den Rand der Weltenschale. Daraufhin hatte sie eine Vision der zwei Baumhälften erblickt, die sich, zunächst zaghaft, dann immer deutlicher aufeinander zubewegten um sich schließlich wieder wie zu einem Stamm ineinander zu verwinden, woraufhin die Zweige sich sogleich in üppiges Grün wandelten, über und über mit Blüten und Beeren besetzt. Gleichzeitig hatte die junge Frau die Stimme der Eibe vernommen, die die Menschen gemahnte dieses endlose Band zu ehren. Die Stimme prophezeite, dass goldene Zeiten des Überflusses und des Segens anbrächen, sobald dies in den Herzen der Menschen ihren Platz gefunden habe.
Seit dieser Zeit nun ist allgemein bekannt, dass die Eibe, eine der von uns hochgeschätzten Baumarten, ebenso wie die Menschen sich stets in einem dieser beiden Zustände des Körpers oder des Gemüts in der Welt zeigt, als da wären männlich oder weiblich.

Kareema Shivasani vom Shamanka Clan aus Calena
Erste Shivasani am sedomeesischen Hofe

Erschienen in Helios-Bote 81, Papyros des Südens