Erster Wendetag im neuen, dem dritten Xurlmond im 40. Regierungsjahr des guten Königs Helos Aximistilius. Ein frostig unfreundlicher Markttag neigt sich auf der Feste Drachentrutz im Fürstentume Drachenhain dem Ende zu. Krämer, Standleute und all jenen, die etwas feil zu bieten hatten, beladen vor der Markthalle müde ihre Wagen und Handkarren mit übriger Ware oder werfen Unrat sowie alles, was nicht mehr zu verkaufen ist, ins dunkle, stinkende Hundsloch gleich hinter dem großen, saalartigen Gebäude. Alles nimmt seinen geregelten Ablauf, Hand in Hand ist die Arbeit schnell geschafft, Abschiede werden ausgetauscht – hehle wie herzliche – alles verläuft wie ehedem.
Unweit der drachentrutzer Markthalle sammeln sich zeitgleich ein letztes Mal für diesen Tag Alt und Jung vor dem Marktbrunnen, füllen ihre Gefäße mit dem wertvollen Nass, mehr als einer in Gedanken schon beim Abendmahl und der wohlverdienten Nachtruhe. Klatsch und Tratsch hält die Müden wach und die Saumseligen eine Weile von der Arbeit im Hause fern – eine gute Übereinkunft, denn trotz des heuer erfreulich wohlgefüllten Brunnens muss angestanden und gewartet werden.
FLAAAAATSSSSSCH! Eine baumhohe Wasserfontäne schießt pfeilschnell aus der Tiefe des Marktbrunnens. Bis auf fünf Schritte sind alle umstehenden mit einem Mal bis auf die Haut durchnässt, viele gar vom Druck der einströmenden Wassermassen von den Beinen und zu Boden gerissen. Jedoch, nicht das Wasser allein ist es, was die Menschen vor Entsetzen erstarren lässt: es ist die menschenhafte Gestalt, die – inmitten der Fontäne – wie der Korken aus der Flasche heraus aus dem Brunnen geschossen kam und nun, gleich ein Marktschreier, auf dem schmalen Brunnenrand steht. „Ein Wassermann“ trauen sich die ersten Mutigen ungläubig zu flüstern. Rasch verstummen diese Stimmen jedoch, als man die großen und vor Zorn funkelnden Augen des Ankömmlings gewahrt. Mit rollender und donnernder Stimme, gleich einem bahnbrechenden Gebirgsbach, sagt er: „WER HAT HIER ETWAS ZU SAGEN?“

Giselher von Mühlenheim ist sichtlich schlechter Laune, die Hände hinter dem Rücken angespannt walkend, stiert er düster auf mehr rote denn schwarze Zahlen. Auch die etwa ein Dutzend Pergamente, die kreuz und quer den einzigen großen Tisch des Turmzimmers zur Gänze bedecken, scheinen dem scharfen Blick des drachenhainer Kanzlers nicht länger standhalten zu wollen und rollen sich – sehr zum zusätzlichen Verdruss desselben und trotz gut platzierter Bleiplättchen – von selbst immer wieder zusammen. Zornig knurrt er: „Verdammte Schafshaut, feine Bütte habe ich bei diesem Jungspund von einem Burgvogt bestellt. Doch was bekomme ich? Ziegenbalg! Danke, Herr von Tuachall, danke, verdammtes Luchnar, für nichts als bockige Stücke Fell!“ Giselher greift in seine Tasche und führt ein goldenes Gefäß zur Nase. „Sapperment, die Bisamkugel muss gefüllt werden“ denkt er sich und vertieft sich wieder in Pergamente. So vergehen die Momente, in denen der ärgerliche Kanzler in seiner betriebsamen Geschäftigkeit weder das Pochen an seiner Tür, noch die hastig heraneilenden Schritte gewahrt. Erst das unziemliche Rütteln an der gebeugten Schulter lässt den angestrengten Sinn des Mühlenheimers vom anvertrauten Fürstenschatz zum Hier und Jetzt wandeln. Zornig fährt er auf: „Was fällt Dir ein, Mann? Mich an der Schulter zu packen, eine Impertinenz sondergleichen!“ Der eifrige Rüttler, Leibdiener Meister Echaz Dattelboom, nun die Zerknirschtheit allselbst, hebt stotternd zur Verteidigung an, als schon von Richtung der Turmtreppen, die zu des Kanzlers Räumlichkeiten im Herzen der Feste führen, das Platschen schnell herannahender, nackter Füße zu vernehmen ist. „Ein Www…. Wasserweeee…sen wünschen seine Hochwohlgeboren zu sprechen, wenn es dem Kanzler belie…“ radebrecht der Diener noch in Giselhers Rücken, als ein recht absonderliches Wesen unter dem Türstock der Kammer steht. Einmal abgesehen vom schulterlangen Haupthaar – das nasssträhnig und voll Wassergras, verrottetem Laub, sowie allerlei Unrat wie Kohlblättern, Eierschalen und Hühnerbein behangen ist – imponiert den beiden Betrachtern vor allem die fahlgrüne und perlmuttglänzende Schuppenhaut, des vor Zorn bebenden Wassermannes, pardon Nöks. Auch die zitternden, rot angeschwollenen Kiemen ziehen im kommenden Moment mehr als nur einen Blick Mühlenheims und Dattelbooms auf sich. Sekunden verrinnen, keiner spricht, bis der fremdartige Eindringling mit ausgestrecktem, dürrem Finger in Richtung des Giselher sticht: „Bist Du der Kranzler, Gansler, Kansler, … oder wie das heißt? Bist Du es, der hier endlich etwas zu SAGEN hat?“
Der Angesprochene hatte sich indes gefangen, all seine gravitätische Contenance und, schlimmer noch, seinen heutigen glühenden Zorn auf die Welt wiedererlangt. Beide Fäuste in die Seite gestemmt donnert er: „Wer hat denn diesen laufenden Lurch raus aus seinem Käfig und hinein in meinen Turm gelassen?“

Später in Dattelbooms Kammer
Vor Meister Dattelbooms sonst so wachen Dienerblick konkurrierten in den nächsten Momenten, da der Kanzler dem Nök seine eigenwillige Begrüßung entgegenbrachte, eine Vielzahl denk- und unterbindungswürdiger Ereignisse um Beachtung, so dass der Diener nur stehen und schauen konnte und auch zur jetzigen späteren Stunde – da er in seiner Kammer haarklein berichtend bei seinem Weibe liegt – es nicht mehr zu rekonstruieren vermag, was sich eigentlich nacheinander zugetragen und an welcher Stelle er – um des Einen Willen – noch eine Wendung zum Guten hätte bewirken können. Erst das Schreien und Zetern der beiden Kombattanten, dann die Beschimpfungen und Drohungen, und letztlich die denkwürdige Kulmination des Ganzen in der schallenden Ohrfeige in des Kanzlers verdutztes Antlitz – Dattelboom kichert leise und verstohlen unter dickem Daunen in die vorgehaltene Hand. Auch wie hernach der junge Burgvogt von Tuachall in Mühlenheims Kammer gestürmt und die beiden Streithähne voneinander trennte, entzieht sich vollkommen seines sonst so versierten Erinnerungsvermögens. Erst als der rotwangige Kanzler die nachrückenden Wachen anwies, den tobenden Wassermann ins „tiefste Loch“ abzuführen, erinnert sich Dattelboom, wieder ganz Herr der Lage gewesen zu sein und emsig all das zerbrochene Geschirr zusammengefegt zu haben, so dass keiner der Anwesenden nachhaltigen Schaden durch Verletzungen nahm – wenigstens ein Erfolg an diesem Tag, denkt sich Meister Echaz, dreht sich zur Seite und sinkt sogleich in tiefen Schlaf. Das einsame Schimpfen und Wehklagen, zwei Etagen der Fürstenburg tiefer, hört er indes nicht.

Erschienen in Helios-Bote 76, Drachenhainer Herold