Unsere verehrte Freigräfin Arana von Sedomee und Apurien wird auf Wunsch des Königs ihre schöne Grafschaft verlassen und gen Escandra ziehen. Nun wird niemand die Weisheit des Königs in Zweifel ziehen noch die Eignung Aranas von Sedomee für ihr neues Amt als Hohe Richterin. Dennoch möge es erlaubt sein, sich zu fragen, ob nun des Königs Entscheidung wie ein gestoßener Dominostein die Kaskade der folgenden Ereignisse auslöste oder ob sich hier mehrere Ursachen und Anlässe wechselseitig durchdringen.

Der Verzicht auf den Herrschaftsanspruch nach glänzender Regentschaft in der Blüte der Jahre wie bei Arana von Sedomee hat beste Tradition in der Freigrafschaft. Starrherzige und entscheidungsunfähige Greise mögen in anderen Landen an ihrem Throne haften wie der Geruch nach Weihrauch an ihren Predigern; nicht so in Sedomee. Wenn ein solcher Wechsel geplant war, so kann der Zeitpunkt als günstig bezeichnet werden. Denn auch der absolute Verzicht auf die Herrschaft in der Bevorzugung, dem Ruf der Göttin zu folgen hat Tradition und wenn die Tochter der Freigräfin, Larissa von Sedomee nun diesen vernahm, ist es besser, die jüngere Schwester Amira Kaela rasch zu etablieren, bevor diese selbst, bald auch schon Großmutter, einem Alter näher rückt, da ihre eigene Tochter eine Kandidatin für Herrschaft wäre.

Auch die bedeutenden Änderungen im Verhältnis zu Darian, die sich anzubahnen scheinen, mögen die Etablierung eines neuen Gesichts ratsam erscheinen lassen. Wer kann sich vorstellen, wie Arana von Sedomee einem selbstgerechten Manne wie Dedekien von Darian Schritte entgegen geht, die noch vor Jahresfrist undenkbar schienen und die keine offensichtliche Not gebietet? Amira Kaela von Sedomee mag dies sicher leichter tun, ohne deshalb Sedomees feste und wichtige Grundsätze aufzugeben. Eine solche Annäherung könnte noch leichter fallen, wenn Darians Gesicht weniger das des eigengefälligen Grinsens wäre – der Nachbar aus der Wüste möge sich dies überlegen, wenn seine Vorschläge ernst gemeint sind.

Diese überraschende Annäherung gilt es noch näher zu hinterfragen, insbesondere, da sie nicht langsam und tastend geschieht, sondern sehr schnell sehr viel erreichen will. Sind dies die neuen Leitlinien von Amira Kaelas Politik? Dies scheint sehr weitreichend, wo sie ihr Amt doch eben erst übernimmt und kann eigentlich, da sie nicht im vollen Galopp der Erfahrung politischer Jahrzehnte in Marola einreitet, nicht einzige Ursache sein. Oder wird die Geschwindigkeit von Dedekien von Darian bestimmt? Der Graf aus dem Norden greift nach neuen Lehen jenseits der Meere und mag den Frieden an den heimatlichen Grenzen gewahrt haben wollen. Doch droht ihm von der neuen Freigräfin, eine Meisterin der schönen Künste und nicht der des Krieges solche Unbill? Einige blumige Versprechungen und kleinere Gesten wären viel eher nach der Manier des Cersansohnes. Und der bloße Wunsch nach den Münzen für ferne Expeditionen ist in anderen Gegenden Heligonias erfolgsversprechender und weniger zinsenlastig als bei unseren aus Erfahrung und mit Recht misstrauischen Kämmererinnen.
Gibt es also in einer der Grafschaften ein noch unbekanntes Problem, eine drohende Krisis, die zwingt, die Hand rasch und weit auszustrecken? Sollte dem so sein, muss man sich zunächst die geplanten Vereinbarungen und Projekte anschauen, soweit sie bereits offenbart sind. Da stößt man auf den Wunsch Darians, mit unserer Unterstützung in den Ogedenbund einzutreten, auf die – nach Jahrzehnten des Streites – bereitwillige Rückgabe alter Originaldokumente, die der Universität zu Marola gestohlen wurden und in Darbor lagern und gar auf das Angebot der Ausweitung der sedomeesischen Pflege der urogedischen Riten und Bräuche auf den Nordteil des alten Valmera, wo sie einst ebenso galten. Letzter Punkt wäre dem doch eher pekuniär geprägten Glauben des Grafen früher ferner gelegen als ein Nech-Burai fliegen kann.

Sedomee würde also zu Recht seine Sichtweise der Welten deutlich weniger ändern als Darian, was zu dem Schlusse verleiten mag, dass es der entfremdete Vetter aus der Wüste ist, welcher unter uns nicht bekanntem Drucke steht und deshalb bereit ist, bisher undenkbare Zugeständnisse zu machen. Vielleicht aber spiegelt er auch nur eine Fata Morgana auf, als Teil einer ganz großen, perfiden Täuschung.

Oder aber all die Dominosteine fallen durch eine Kraft, die tief unter allem wirkt, was wir erörtern und die wir Uneingeweihten und vielleicht selbst die Mächtigen nicht oder nur vage erahnen.

Agnisai von Sedomee
für den Rat der Sinnenden zu Marola

Erschienen in Helios-Bote 70, Papyros des Südens