Eines Abends vor nicht allzulanger Zeit gab im „Irrlicht“ zu Arnstein ein junger Ziegenhirte namens Ames Bund folgende Erzählung zum Besten:

„Heda, Leute, hört mich an! An diese Geschichte denkt ihr noch in Jahren. Ich kann sie selbst kaum glauben, doch sie ist passiert, so wahr ich hier sitze!
An einem schönen Tag im Frühling habe ich die Ziegen zum Bröller geführt – ihr wißt schon: Da, wo der Finsterbach im Berg verschwindet. Und als ich die Herde durch die Furt treiben wollte, da ging zuerst alles gut, aber dann wurde eines der Tiere von der Strömung erfaßt und weggetrieben. Ich überlegte nicht lange, sondern jagte den Rest der Herde kurzerhand auf die jenseitige Wiese, ließ sie allein und rannte der Ziege am Ufer hinterher. Bald hatte ich sie eingeholt, aber der Bröller war schon gefährlich nahe. Also rannte ich weiter, bis ich sie überholt hatte, sprang in das eiskalte Wasser und versuchte, sie im Vorbeitreiben zu erwischen. Leider trübte die schräg stehende Sonne meinen Blick, und so entging mir das arme Tier. Es trieb in den Bröller hinein, wurde verschluckt und war verschwunden.
Das konnte ich nicht auf mir sitzen lassen. Ich habe noch nie ein Tier verloren. Ich nahm also meinen ganzen Mut zusammen und tauchte in den dunklen, kalten Bröller hinein.

Ihr müßt wissen, daß ich keine Furcht kenne und die Gefahr mindestens genauso liebe wie schöne Frauen und guten Wein.
Anfangs dachte ich, ich würde ertrinken, doch dann tauchte mein Kopf wieder aus dem Wasser auf und ich atmete begierig die kalte, nasse Luft. Es war stockdunkel, aber ich konnte vor mir die Ziege meckern hören. Als ich auf sie zuschwimmen wollte, merkte ich, daß ich von einer starken Strömung weitergetragen wurde. In völliger Finsternis ging es über allerhand Stromschnellen hinweg. Nur mein Gehör sagte mir, daß ich mich der Ziege näherte. Und während ich so schwamm, fragte ich mich, wohin dieser unterirdische Fluß wohl führen möge… ob er wohl jemals wieder zutage treten würde?

Plötzlich sah ich vor mir einen geheimnisvollen Lichtschein. Ich wunderte mich, was das wohl für ein unterirdisches Leuchten sei. Wohnte etwa jemand hier, an diesem unheimlichen Ort?
Zunächst dachte ich, daß es etwas völlig anderes wäre, aber dann erkannte ich: es war die magische zerbrochene Stadt, die nur die allerweisesten der Gelehrten kennen. Fahles Licht leuchtete über den grauen Ruinen und die Abbilder vergangener Menschen wandelten ohne Ziel in den staubigen Gründen herum und suchten nach Dingen, die längst vergangen sind. Ich aber wurde weitergerissen, fortgetragen von den unterirdischen Strömen hinab in die Schwärze, immer tiefer hinab, bis ich dachte, nun sei es um mich geschehen. Doch plötzlich sah ich abermals einen fahlen Lichtschimmer. Ich fragte mich schon, ob ich wieder in der magischen zerbrochenen Stadt sei, doch dann vernahm ich plötzlich ein Hämmern. Um mich herum verbreiterte sich die Höhle zu einer großen Halle und das Wasser floß merkbar ruhiger. Zunächst dachte ich, daß es etwas völlig anderes wäre, aber dann erkannte ich: es waren die sagenhaften Zwergenminen von Doromanosch. Und dann gewahrte ich die Zwerge, wie sie mit spitzen Hacken und Hämmern und Meißeln den Fels aufbrachen und ich sah, wie ihnen der Schweiß von der Stirn und den nackten, muskulösen Oberkörpern rann und ich schaute ihre traurigen Gesichter. Hier war also der Ort, wo all die Kristalle und Edelsteine gewonnen wurden. Und mir war, als würde ich ganz deutlich ihre tiefen und klagenden Gesänge aus den rauhen, jahrhundertealten Kehlen hören. Sie handelten von kostbaren Gemmen, großem Reichtum und verlorenem Glück. Gerne hätte ich etwas von dem Reichtum mitgenommen, aber ich wurde weitergerissen, durch wilde Strudel hindurch in lange, unheimliche Höhlengänge hinein. Hätte ich nicht ab und zu meine Ziege meckern hören, hätte ich aufgegeben, das könnt ihr mir glauben. Aber plötzlich wurde es wieder hell und luftig und ich merkte, daß ich in einem frischen, kleinen Bach schwamm, der plätschernd und murmelnd ins Freie hinaus führte. Zunächst dachte ich, daß es etwas völlig anderes wäre, aber dann erkannte ich: Es war der verwunschene Parimawald. Warm schien die Sonne durch die Zweige und ich sah wundersame Blumen und freundliche Phiaræ standen drumherum und die Vögel zwitscherten und die Bienen summten und alles war voll Zauber und mir war, als würde ich in der Zeit vor- und zurückblicken können, vieles habe ich gesehen, fürwahr – fragt mich nachher, wenn ihr noch Geld habt, ihr Leute! – Ich jedenfalls wurde weitergerissen, dorthin wo der Fluß sich wand, wieder hinab in die finsteren Abgründe, und als ich gerade dachte, es würde gar nicht mehr hell werden, sah ich in einem flackernden Lichterschein hohe, uralte Holzregale vor mir aus der Dunkelheit auftauchen. Zunächst dachte ich, daß es etwas völlig anderes wäre, aber dann erkannte ich: Es war das geheimnisvolle unterste Kellergeschoß der Universitätsbibliothek in Escandra. Denn die Regale, es waren Bücherregale mit schweren, staubigen Tractaten darin über die Gestalt der Welt, über die wahre Absicht der Götter, über den Sinn des Seins und die Geheimnisse der Gestirne. Nur die Eingeweihtesten der Eingeweihten wissen von diesen Regalen und nur die Gelehrtesten der Gelehrten verstehen, was in den Büchern dort zu lesen ist. Ich aber sah, wie ein Mann mit einem Studiermantel und einem wunderlichen Hut auf dem Kopf auf einer hohen Leiter stand. Seine Schultern hingen herunter und er hatte auf der obersten Sprosse eine Kerze abgestellt, damit er mit beiden Händen sein gar schweres Buch halten konnte. Und mir war, als würde er sich zu mir herumdrehen und mich ansehen mit seinen tief in den Höhlen liegenden Augen, und er winkte mir freundlich zu mit seinen dünnen, knochigen Fingern und ich erkannte, es war Rolvanus Esgadran, der Klügste der Klugen unter all den gescheiten Escandrinischen Gelehrten. Er sah mich irritiert an, und sein Gehilfe rannte stotternd auf mich zu, um mich zu ergreifen. Ich aber wurde weitergerissen, hinein in einen gurgelnden Höllenschlund, und es war nichts als Schwärze um mich, aber ich verzagte nicht, denn ich wußte, gleich würde wieder eine neue Ungeheuerlichkeit die Dunkelheit erhellen. Und sowie ich diesen Gedanken zu Ende gedacht hatte, nahte sie auch schon: Ich erkannte ein düsteres, unheimliches, mit unfaßbar grausamen Schriftzeichen verziertes Portal, auf das ich unaufhaltbar im Strom des unterweltlichen Flusses unweigerlich zuraste. Zuerst dachte ich, daß es etwas völlig anderes wäre, aber dann erkannte ich: Es war das magische und höchst geheime Tor der Unschuld. Niemand darf von ihm wissen, denn wer von ihm erfährt, wird hindurchgehen wollen und sogleich seine Unschuld verlieren. Ich versuchte natürlich, gegen die Strömung anzuschwimmen, aber ich wurde weitergetrieben, immer weiter auf das Tor zu. Und ich bekam große Angst, weil ich ein rechtschaffener Ceride bin, dem seine Unschuld lieb und wichtig ist, aber ich konnte nichts mehr tun, als hindurchgerissen werden durch jenes grauslige Portal der Verrohtheit und ich selbst fühlte mich auch ganz grauslig und schuldig und ich hatte ein rabenschwarzes Gewissen. Was würde nur mit mir geschehen, wenn ich nicht mehr unschuldig sein würde?
Dann stieß ich hindurch.

Und ich schaute mich um und rätselte, was sich wohl hinter jenem wunderlichen Tor verbörge und lustig und froher Dinge, wie ich war, war ich höchst beruhigt, daß der Fluß nicht darauf zufloß, sondern davon weg. Irgendwie glaubte ich, daß mein naives und unverdorbenes Wesen dahinter ein Ende genommen hätte. Lustig, nicht war?

Doch ich hatte nicht viel Zeit, darüber nachzudenken. Plötzlich war nämlich alles ganz hell und weiß und voller Licht und Frische. Ein kühler Wind wehte und ich fröstelte ein wenig. Zunächst dachte ich, daß es etwas völlig anderes wäre, aber dann erkannte ich: Es war ein milchiggrauer, reißender und eiskalter Gletscherbach in den verschneiten, unerreichbaren Eisregionen des Schlangenkamms. Niemals war diese Landschaft von eines Menschen Fuß betreten worden, und doch war mir, als würde ich ein Singen hören, so süß und sehnsuchtsvoll, daß ich glaubte, ich müsse sterben, und da begriff ich, daß es Saarka selbst war, die nur allein und in der Einsamkeit singen darf – seit der Zeit, als sich ihr unbedachtes Singen einmal gegen den Göttervater gewandt hat.

Bevor ich aber von ihrem Singen gefangen war, wurde ich zum Glück weitergerissen, hinein in einen tiefschwarzen Schlund und in rasender Geschwindigkeit durch einen engen Tunnel immer weiter durch die felsigen Urgründe des Königreiches.

Als ich schon dachte, es würde nimmer enden mit dieser schauerlichen Höllenfahrt, lichtete sich die Schwärze um mich herum. Das Wasser floß langsamer und ich war fürwahr verwundert: Die Wände, sie waren mit den gar allerprächtigsten und kostbarsten Kacheln gekachelt, die ich in meinem jungen Leben als Ziegenhirt zu Gesicht bekommen habe. Dann verbreiterte sich der Kanal zu einem riesigen Saal. Wunderschöne Kristallleuchter erhellten kunstvolle Deckenfresken, filigrane Rundbögen wurden von schlanken, weißen Marmorsäulen getragen. Es gab wunderschöne Statuetten aus Marmor, die Körbe unter dem Arm trugen mit allerhand Obst und Gemüse darin. Alles war dermaßen opulent geschmückt, daß mir sogleich klar war, was das alles war: Es konnte nur die prunkvolle Lustbadetherme des Prinzen Anselm von Thal sein. Warm schien die Sonne durch hohe, hellbunte Bleiglasfenster auf ein Sprungbrett aus Parimafederholz, und ich sah, wie ein anmutiger, junger Mann mit einem wahrlich schwungvollen und eleganten Sprung ins Wasser eintauchte. Und als er direkt neben mir wieder auftauchte und mich freundlich grüßte, erkannte ich ihn: Es war Prinz Anselm von Thal. Natürlich entgegnete ich den Gruß, schließlich habe ich schon viel gehört von dem jungen Prinzen und seinen abenteuerlichen Abenteuerreisen. Der junge Adlige wollte sich auch sogleich mit mir unterhalten und meine romantische Geschichte anhören – ich aber wurde leider weitergerissen, wieder hinein in den unterirdischen Kanal.
Nach einiger Zeit sah ich noch einen anderen Kanal, und dann noch einen anderen, noch einen und noch einen. Die Kanäle wurden immer mehr. Bald waren sie neben mir, hinter mir, vor mir, über mir, unter mir und so weiter. Alles schien nur noch aus Kanälen zu bestehen. Zunächst dachte ich, daß es etwas völlig anderes wäre, aber dann erkannte ich: Es konnte nur das überaus verschlungene Kanalgewirr des Betiser Hafenviertels sein. Überall war zwielichtiges Volk, Verkäufer, Reisende und wunderschöne Frauen, die mir interessierte Blicke zuwarfen. Manche schienen von mir angetan, denn sie sprachen mich an und wollten etwas von mir – ich aber wurde weitergerissen, fort von jenen wunderschönen Geschöpfen des Luxus und der Anmut wieder hinein in die dunklen, brodelnden Abgründe. Und es ging immer tiefer und tiefer hinunter, bis alles ganz schwarz und schaurig war. Uhuuu!

Ich fragte mich schon, wohin ich als nächstes gelangen würde, als ich vor mir ein Hämmern vernahm. Die Höhle um mich herum verbreiterte sich zu einer großen Halle und das Wasser floß merkbar ruhiger. Zunächst dachte ich, daß es etwas völlig anderes wäre, aber dann erkannte ich: Es waren die sagenhaften Zwergenminen von Tikon. Und dann gewahrte ich die Zwerge, wie sie mit spitzen Hacken und Hämmern und Meißeln den Fels aufbrachen und ich sah, wie ihnen der Schweiß von der Stirn und den nackten, muskulösen Oberkörpern rann und ich schaute ihre traurigen Gesichter. Hier also war der Ort, wo all die köstliche Schokolade gewonnen wurde. Und mir war, als würde ich ganz deutlich ihre tiefen und klagenden Gesänge aus den rauhen, jahrhundertealten Kehlen hören. Sie handelten von dunkler, cremiger Süße; von mit Honig durchsetzten Schokoladenbergen; von tiefbitterem Kakao und dem ewigen Kampf gegen den Liebeskummer. Gerne hätte ich etwas von den Köstlichkeiten mitgenommen, aber ich wurde weitergerissen, hinab in die Schwärze, die sich allerdings langsam in ein tiefes Blau wandelte. Aber auch das Blau um mich herum wandelte sich, es wurde heller, und mir war, als würde ich im Ozean selbst durch eine Röhre schwimmen. Bald machte ich etwas unter mir in den Wässern aus, und ich wunderte mich, was es wohl sei. Zunächst dachte ich, daß es etwas völlig anderes wäre, aber dann erkannte ich: Es war das legendäre Xurliana. Das uralte und wegen eines lange vergangenen Frevels im Meer versunkene schönste Reich Heligonias. Es gab üppige, reichgeschmückte Gärten mit saftigen Früchten; es gab wunderbare, prächtige Städte, ganz aus edelsten Edelsteinen und kostbarstem Perlmutt manufaktiert. Alles war so wunder- wunderschön, daß es fast ein wenig an Prinz Anselms Hallenbad erinnerte. Doch kuriose Fischmenschen schwammen auf den aurazithenen Straßen herum, die mit reinem Septonith gepflastert waren und ein weiser Alter mit einem Silberbart hielt ein gestrenges Gericht über diejenigen, die sich versündigt hatten gegen ihren Herren und Vater, den Gott des Meeres, Xurl selbst…

Ich aber wurde weitergerissen, in eine starke Strömung hinein. Zunächst dachte ich, daß es etwas völlig anderes wäre, aber dann erkannte ich: Es war der unheimliche, auf keinen Seekarten verzeichnete Malström in der mittleren Jolsee, vor dem sich alle Seeleute fürchten, aber nicht ich, weil ich gleich mit erkannt hatte, daß meine Irrfahrt nun ein Ende haben könnte. Als ich nämlich einen kurzen Blick auf den blauen Himmel hoch über dem Strudel erhascht hatte, schwamm ich wie ein Ostarier nur schwimmen kann rückwärts den Malström hinauf und gelangte endlich in das ruhige Wasser der südlichen Jolsee, wo ich alsbald eine Insel am Horizont ausmachte. Meine Ziege war auch schon unterwegs dorthin, und ich, nicht faul, folgte ihr natürlich.
Ich dachte zunächst, daß es etwas völlig anderes wäre, aber irgendwie hatte ich es schon erwartet: Das Herzog-Uriel-II.-Atoll. Endlich konnte ich wieder Ostarischen Boden betreten. Ich wurde von einer Menge begeisterter Betiser Bürger empfangen, die gerade Urlaub machten und die mich mit exotischen Cocktails stärkten. Enthusiastisch lauschten sie meinen abenteuerlichen Berichten und später am Abend machten sie am Strand ein schönes Feuer und wir tranken Zuckerrohrschnaps und tanzten Flamingo.

Tja, der Rest ist schnell erzählt. Ich bin mit dem nächstbesten Schiff nach Darian gereist und von dort auf Schusters Rappen wieder nach Hause, nach Ostarien, nach Arnstein. Und heute bin ich hier und habe nichts als diese Ziege und meine romantische und abenteuerliche Geschichte. Ihr Leute, ich frage euch: Bin ich nicht ein reicher Mann?“

Soweit der Bericht des Ziegenhirten. Über den Wahrheitsgehalt der Erzählung mag ich nichts sagen. Da ich die Geschichte aber dennoch sehr amüsant finde, hoffe ich, auch Euch damit etwas Unterhaltung und Kurzweil beschert zu haben.

Kilian vom Ebersbrunn

Erschienen in Portal 15,