Heilmagie.

Ist sie nicht von fundamentaler Bedeutung für uns alle?
So schnell kann es geschehen, ein Moment der Unachtsamkeit, und schon zerschneidet das Messer nicht die Tomate, sondern den Daumen.
Und hat man in einem solchen Moment kein Pflaster zur Hand, bleibt einem in der Tat nur Eines: der laute Rufe nach einer Hailärin!!!! (Ohne Beschränkung der Allgemeingültigkeit würde in den meisten Fällen die weibliche Form verwendet. Selbstverständlich behandelt die Text auch männliche Heilerinnen und Verletzte.)

Ich habe diesen Ruf ausgiebig getestet, und siehe da: es gab immer wieder jemanden, der darauf hörte. Folgende Individuen konnte ich auf diese Weise über ihr Metier ausquetschen: die Heilerin (angeblich Großmeisterin) Gjarrelyn Lhydaan Prima Pescatora inter Parias der Manus Satanus im Bunde der Manus Sinistra, den Zauberlehrling Shay san Shalon ap Orwen (eine Schülerin von Orwen von Auria, bedauerlicherweise unlängst verdampft), den magisch vielseitig interessierten Belgabor (auch ein Bekannter von Orwen), den drakonischen Schafhirten Andragos (“Ich wollte nie Heiler werden”), den Barden Hal Lavinn und zuletzt, und in diesem speziellen Fall in der Tat trotz seines Namens am wenigsten wichtig, N’dur-man tur o amandil en tiren-fea , an seinem Namen unschwer als Elf zu erkennen.

“Bei manchen Krankheiten kann es sehr wertvoll sein, Fisch zu essen.” (Shay)
Theoretische Heilereyen

Obwohl ein guter Teil der Leserschaft sich wohl aus den arkanen Zauberinnen rekrutieren dürfte (von den anderen können viele ja auch nicht lesen, der Rest will nicht lesen, was der Konvent so schreibt), kann man, denke ich, keinen einzigen der Heilkundigen, mit denen ich gesprochen habe, zu den arkanen Heilerinnen rechnen – selbst Shay nicht, die sonst in ihrer Ausrichtung wohl noch am ehesten in einen der Konvente, Verzeihung, den Konvent passen würde.

Deswegen kann ich, wenn ich im folgenden die verschiedenen Theorien der Heilkundigen über ihre eigene Kunst (also das, was sie glauben zu tun) beschreiben werde, hier auch nur das wiedergeben, was Gjarrelyn sagt:

“Arkane Zauberer gebieten über die magische Kraft. Diese Kraft oder Essenz ißt in Allem und langweilt sich normalerweise dabei. Bittet man sie um Hilfe (“Magie, mach was Du willst!”), kann sie viel Blödsinn anstellen, aber mit etwas Geduld auch überzeugt werden, peripher oder gar tatsächlich sinnvolle Dinge (wie Heilungen) zu vollziehen.” Laut Gjarrelyn wissen die Zauberinnen dabei normalerweise nicht genau, was sie tun. Aber die Leserschaft vermag das sicher viel besser zu beurteilen.

Gjarrelyn selbst beschreibt ihre eigene Heilkunst als recht wäßrige Angelegenheit: ein Körper sei wie ein Teich, in dem sich die Fische der Lebensenergie tummelten. Wenn der Körper, und damit die Böschung des Teiches, verletzt wird, sterben die Fische oder gehen auf Urlaub, so ein Teich ist ja auf Dauer recht eintönig. Aufgabe der Heilerin ist es nun, die Fische dazu zu überreden, wieder in den Teich zu springen – oder, wenn sich die ursprünglichen Fische schon aus dem Staub gemacht haben, andere Freiluftfische für diese Aufgabe zu rekrutieren. Laut Gjarrelyn muß man dazu oft in Engels- und Seeteufelszungen auf die Biester einquasseln. Aber bis jetzt habe sie noch jeden Fisch im Rededuell besiegt!

Wunden äußern sich also in Fischknappheit. Diese Fischknappheit muß nicht immer von außen verursacht werden – ein Gift ist wie ein Hecht im Karpfenteich, eine Krankheit wie ein Fisch, der plötzlich begonnen hat, seine Artgenossen zu verschlingen. Gifte und Krankheiten sind sich also untereinander sehr viel ähnlicher als beide Wunden gleichen.
Ist jedoch der letzte Fisch entwichen, kommt – nach einer gewissen Zeit – die Sammlerin des Lebenswassers und nimmt das Wasser mit sich. Aus praktischen Gründen erfolgt der Transport meist in Form von Eisblöcken. Daher ist es auch kein Wunder, daß so viele Völker mit ihrer Totengöttin auch Winter und Eis assoziieren. Die Eisfrau hebt das Eis jeder Seele so lange auf, wie sich jemand an die Person erinnert. Ist die letzte Nachfahrin verstorben, die Grabinschrift verwittert und jedes Stück Besitz eines Wesens zu Staub zerfallen, wird die Seele zu Schnee und fällt auf unsere Welt herab, um dort wieder in den ewigen Kreislauf des Wassers des Lebens einzugehen.
Ist jemand also erst einmal tot, muß man den Teich wieder füllen, sonst verrenken sich die Fische die Kiemen, wenn eine übereifrige Heilerin sie in den Teich wirft. Dazu muß die Eisfrau (normalerweise bewaffnet, gefährlich und sehr mies gelaunt) überzeugt werden, das Wasser wieder freizugeben; eine nicht immer ganz einfache Aufgabe, selbst für geübte Rednerinnen wie Gjarrelyn.

Andererseits muß man ebenso darauf achten, nicht zu viele Fische in einen Teich zu locken, denn ein Übermaß an Fisch kann zu oben erwähntem kannibalischen Verhalten führen.
Untote sind wandelnde leere trockene Teiche, die glauben, voll Fisch zu sein.

Gjarrelyn bat mich auch, ausdrücklich darauf hinzuweisen, daß die Lebensfische sich für den normalen Genuß nicht eignen – nur um hungernden Zauberern diese Flausen auszutreiben.
Auf des Gebiet der Heilung des Geistes hat sie sich bis jetzt noch nicht vorgewagt; der Umgang mit mehr oder minder geistesgestörten Fischen ist wohl auch nicht jederfraus Sache.

Für Shay und Belgabor ist der gesunde Körper eine wohlklingende Melodie, bei der jedes Organ und jeder Knochen ein Instrument ist. Beide haben gelernt, nicht nur hibernianischen Volksliedern, sondern auch dieser Melodie zu lauschen. Natürlich sind aus einem Armstumpf pulsierende rote Gischtwolken ein gewisser Hinweis auf eine leichte Störung des Wohlbefindens – die wahre Verletzung ist jedoch die Veränderung der Harmonie, der Mißton im Gesang des Leibes, der durch die Wunde verursacht wird.

So wie die Zerstörung des Körpers die Melodie stört, kann durch Vorsingen der richtigen Melodie der Körper auch wieder hergestellt werden – man sollte sich nur nicht im Ton vergreifen. Die der Verletzten innewohnende Kraft benutzt die Gewalt der Musik dazu, sich ihr eigenes Bett neu zu formen – und je entkräfteter die Patientin ist, um so schwerer fällt auch das Heilen.

Auch Gifte und Krankheiten äußern sich auf ähnliche Weise. “Eine Wunde ist wie eine einzelne scharfe Spitze, wie wenn man bei einem Saiteninstrument gelegentlich danebengreift. Eine Krankheit ist viel dumpfer, etwas, was ständig da ist – so wie eine leicht verstimmte Saite. Gift ist ein zusätzlicher Mißton, der nicht in den Körper gehört.”, erklärt Belgabor. In Shays Wahrnehmung dagegen sind Gifte eher so, als singe man den falschen Text zur richtigen Melodie; Krankheiten äußerten sich auf sehr unterschiedliche Art und Weise.
Beide haben auch noch nicht sehr viel Erfahrung mit Giften und Krankheiten, und noch weniger mit seelischen Verletzungen. “Da muß ich noch üben, dazu brauche ich ein feineres Gehör.”, so Shay. “Bei manchen Krankheiten kann es sehr wertvoll sein, Fisch zu essen.”, fügt sie hinzu, und, mit einem treuherzigen Augenaufschlag: “Fische sind nette Tiere.”

Wenn Shay heilt, sorgt sie stets für eine brennende Kerzenflamme vor sich. die Flamme ist spirituelles Leitbild und gleichzeitig Warnung: eigentlich freundlich, Wärme spendend und wohltuend für Körper und Geist kann selbst ein so kleines Feuer Schmerzen und Verletzung bringen, wenn man ihm zu nahe kommt. Auch bei der Heilung muß man darauf achten, die Melodie des Körpers nie zu stark zu nähren, denn sonst endet das triumphale Heilercrescendo mit einem glasigen Blick und Strömen von Blut aus Mund und Nase.

Als ich mit dem Barden Hal sprach, erwartete ich, abermals etwas Ähnliches wie zuvor schon von Shay und Belgabor zu hören. Weit gefehlt.

Zwar klingen auch die Melodien seiner Lieder im Körper der Patientinnen wieder, doch dient dies einzig und alleine dazu, der Verletzten die Schmerzen zu nehmen und sie in einen Zustand des Wohlbefindens zu versetzen – andere Heiler mögen hierfür ein Betäubungsgift oder einen Holzhammer verwenden (nach einer für ihr Opfer sehr schmerzhaften Erfahrung hat Shay übrigens gelernt, daß Schlafzauber zu diesem Zwecke nicht geeignet sind).

Hal identifiziert das Problem wenn möglich auf recht konventionelle Weise (“Ich schau halt mal nach, wo Blut herauskommt. Außerdem frage ich den Patienten, wo ihm etwas weh tut.”). Eine sehr fundierte Ausbildung über das Wesen des Körpers hilft ihm dabei. Bei Krankheiten, Giften und inneren Verletzungen genügt dies jedoch nicht. In solchen Fällen muß er sich teilweise in den leidenden Körper versetzen, um dessen inneren Sinne für sich nutzbar zu machen. Töne, die den Körper zum Klingen bringen, können ihm einen Fingerzeig darauf geben, wo es im Körper falsch widerhallt – so wie ein Becher, der einen Sprung hat, anders klingt als ein intakter Becher.

Auch bei der Heilung spielt Hal nicht auf dem verletzten Körper, sondern eher mit ihm: die Töne formen Haut und Muskeln neu, nach einer Vorschrift, die ihnen der Barde und nicht etwa der Körper vorgibt – er ergreift also selbst die Initiative, während sich Shay und Belgabor in ihrem Tun anleiten lassen. Um Krankheiten und Gifte zu heilen, spielt er einfach verschiedene Melodien – so wie ein Schmied vielleicht zu einem anderen Hammer greift, um statt eines Hufeisens eine Zahnspange zu schmieden. Hals Hammer ist die Flöte, ein besonderes Zauberinstrument, das er von seinem Meister erhielt. Heilen könne man wohl auch mit jedem anderen Instrument, aber das sei viel schwieriger, und ihm sei das bislang noch nicht gelungen.
Ob Mensch oder Tier, spielt bei seiner Methode keine Rolle: “Es gibt auch kranke Fische, die man heilen muß.”

Der menschliche Geist ist sehr leicht zu beeinflussen – im Schlechten, wenn einen die Fratze einer Kreatur aus einer anderen Welt noch Monate, ja, Jahre im Traum verfolgt, aber auch im Guten. Hal hat oft keine Schwierigkeiten damit, Ängste zu lindern, Alpträume zum Verstummen zu bringen, und zwischen gespaltenen Persönlichkeiten zu vermitteln.

Es ist bezeichnend, daß viele Zauberinnen zwar mit Flammenwalzen um sich werfen können und fast ohne Mühe (und immer öfter gar aus Versehen) Löcher zwischen den Dimensionen aufreißen, sie aber blind geworden sind gegen das wild weißblaue Singen und Kratzen, das ein Geist ausstrahlt, der von einem gebrochenen Arm gepeinigt wird, blind gegen das trocken wabernde Wimmern, das von einer Seele stammt, die sich in sich selbst zurückgezogen hat. Selbst Hal, der dem Geist helfen kann, versteht wohl nicht wirklich, wie er es tut.
Andragos ist, ebenso wie Gjarrelyn, einer der altgedientesten und renommiertesten Heiler der Mittellande. Er sieht den Körper durchzogen von einem Geflecht von Kraftlinien. Diese Linien verlaufen oft, aber lange nicht immer, gemeinsam mit den Blutadern. Die Kraftlinien sind bei jedem Wesen ein wenig anders und tragen in jedem Teilstück auch die Form der Ganzen. Andragos hat gelernt, diese Kraftlinien zu “sehen” – mit einem der vielen Sinne, die heute bei so vielen anderen Wesen verkümmert sind.

Zerreißt nun eine Verletzung die Linien oder entfernt gar größere Stücke, kann die Heilerin daher lose Enden wieder richtig verbinden oder die fehlenden Stücke ergänzen. Auf welche Art und Weise Andragos dies genau tut, vermag er nicht zu erklären: “Wenn sich die Linien wieder zu einem Ganzen verwebe, dann folge ich alleine meinen Gefühlen. Heilen ist Emotion, nicht Verstand.”

Er greift dazu auch auf seine eigenen Kräfte zurück – manchmal zu ausgiebig: “Es ist wie mit Alkohol: man trinkt und trinkt, und irgendwann versucht man aufzustehen und erst in diesem Moment bemerkt man, wie viel man eigentlich getrunken hat.” Stellt sich eine enge Freundin des Verletzten zur Verfügung, kann Andragos auch deren Ströme anzapfen: “Bei Freunden sind sich die Ströme nahe genug.”
Ein Gift verändert den Inhalt der Ströme, färbt das Wasser und den Fisch grün. Krankheiten äußern sich entweder wie eine Wunde (die Pocken sind ein Beispiel dafür) oder wie ein Gift (Fieber ist von dieser Art).

Der Strom der Lebensenergie ohne den zugehörigen Körper nennt man Geist, ein Körper ohne die Lebensenergie ist eine Untote. Mehr Gedanken hat sich Andragos noch nie über diese Kreaturen gemacht: “Ich hasse Untote. Ich vernichte sie, wo ich sie treffe. Ich will gar nicht wissen, was sie sind.”

Wie man den Geist behandelt, hat auch Andragos noch nicht ergründet. Fisch mag Andragos nicht. Er sei aber auch kein ausgesprochener Fischfeind.

Auch N’dur-man erzählte mir von einer Theorie. Er wollte mir zwar nicht sagen, vom wem sie ist, ich bin jedoch sicher, daß er nur zu bescheiden war, zuzugeben, daß es sich um seine eigenen Überlegungen handelt. Nach seinen Vorstellungen besteht der Körper aus lauter winzig kleinen Elflein, den Fragmentiten, die sich sehr gerne haben und deswegen aneinander festklammern.

Manchmal, wenn man sie mit einem Schwert kitzelt, dann lassen sie los. Das kann auch passieren, wenn ihnen kalt ist, und sie die Hände in die Taschen stecken, oder einfach nur, wenn ihnen langweilig wird. Manchmal streiten sie sich auch, und fangen gar an, sich zu prügeln. Daher kommt der Schüttelfrost beim Fieber. Von manchem Essen wird ihnen schlecht, dieses Essen nennt man dann Gift.

Um jemanden zu heilen, muß man eine gewisse rhetorische Begabung haben, denn es gilt, die Massen der kleinen Elflein von sich und vor allem von ihrer Aufgabe zu überzeugen – ganz ähnlich, wie Gjarrelyn dies bei den Lebensfischen macht.

Eine erprobte Anrede für diese Wesen ist die Formel “Liebe Gemeinde!”, bei der alle kleinen Elflein die Ohren spitzen.

Im Rahmen dieser Theorie die Existenz von Untoten oder Geistern erklären zu wollen, ist jedoch nicht ganz einfach. Aber vielleicht fällt dazu noch mal jemandem etwas ein, und Wiederbelebungen, bei denen andere Heiler mit ihren Erklärungen doch arg ins Stottern geraten, ergeben sich fast von selbst: erst kürzlich trafen sich viele Tausend Fragmentiten, um eine Regald-Revival-Versammlung abzuhalten – allerdings im Großfürstentum Nuremburg, da die Fragmentiten in Heligonia Versammlungsverbot hatten…

“Ich habe noch nicht mit Fischen geheilt oder auf ihnen gespielt” (Hal)
Praktische Heylerai

Über die praktische Seite des Heilens ist man sich sehr viel einiger als über die Grundlagen – egal, auf welche Weise eine Heilerin Wunden behandelt, stets gibt es dabei gewisse Dinge zu beachten. Ich möchte an dieser Stelle auf die sehr lesenswerten Traktate “Heilmagie – und was man wissen sollte, bevor man sie anwendet” sowie “Heiler – und was man wissen sollte, bevor man einen ruft” verweisen, die bei der Autorin Gjarrelyn erhältlich sind.

Nehmen wir für den Augenblick einmal an, man hat es lebend bis zu dem oder der Verletzten geschafft, d.h. man wurde nicht im Dunklen für einen Feind gehalten und abgemurkst, ist nicht in eine der vorsorglich aufgestellten Fallen gelaufen und hat sich auch nicht im Wald verlaufen. Nehmen wir weiterhin an, die Verletzte ist wirklich verletzt und nicht bezaubert, besessen oder eingeschlafen. Nehmen wir an, die Wunde sei zu finden und nicht in den Tiefen eines Plattenpanzers oder unter den Fellen eines prüden Barbaren verborgen. Nehmen wir an, unser Ziel lebt noch, lehnt nicht aus religiösen Gründen Heilungen ab, gehört einer annähernd humanioden Rasse an und gibt kein dämonisches Rülpsen von sich. Dann sollte man zunächst einmal die Wunde gründlich reinigen und, soweit möglich, mit normalen Mitteln versorgen und verbinden. Oft reicht das schon, und dann sollte man es auch dabei belassen. Übermäßiger Gebrauch von Heilmagie schädigt auf lange Sicht den Körper (der verlernt, sich auf normalem Wege zu regenerieren), und verführt die Kriegerin zu einem sorglosen Umgang mit der Gefahr.

Bei schwerer beschädigten Abenteurern jedoch muß man ein klein wenig mehr Mühe geben. Nach einem eventuell sinnvollen Abtransport des Körpers an einen gemütlichen Ort versetze man sich geistig und körperlich in einen angemessenen Zustand (zum Beispiel, indem man sich mit zitternden Fingern seine Lieblingsdroge aus einer Ampulle über die Finger kippt, diese sichtbar gierig ablutscht, dann wirr die Augen verdreht und ein wenig Schaum vor dem Mund bekommt) und flöße seinem Opfer Hoffnung und Zuversicht ein (“Vertraut mir – ich weiß, was ich tue!”).

Hat man ein Maskottchen, z.B. einen kleinen knuddeligen Stoff-Lich, einen echten Kuscheldrow oder eine Schnitzerei seines Lieblingsschafes, dann ist jetzt der richtige Moment, es knapp außerhalb der Blut- und Tränenspritzerreichweite zu plazieren. Shay würde hier eben ihre Kerze anzünden, Hal seine Flöte von Essenresten reinigen. Nach einer gewissen Zeit ist schließlich alles vorbei, so oder so.

Nehmen wir einmal an, die Patientin hat wider Erwarten überlebt. Natürlich erklärt man jetzt der mehr oder weniger Geheilten, sie müsse jetzt ruhen, sonst werde die Wunde gleich wieder aufbrechen, außerdem sei sie durch die Wunde geschwächt und müsse sich schonen. Wird jemand darauf hören? Belgabor jedenfalls hat in dieser Hinsicht keine Illusionen mehr: “Man kann doch sagen, was man will – die kommen so oder so nach kurzer Zeit blutend wieder.”

“Heiler angeln nicht” (Gjarrelyn)
Moralische Hailerey

Wirklich interessant wird es, wenn man einen Blick auf die ethischen Fragen der Heilerei wirft – denn nur wenige Heilerinnen leben in dem Elfenbeinturm, in den sich gerade arkane Zauberer so gerne zurückziehen, wenn es um moralische Fragen geht. So zuckte Gjarrelyn zusammen, als wir gerade über Lebensfische sprachen und ich sie nach Fischhändlern fragte – und danach, ob sie gelegentlich bei anderen angeln ginge. “Heiler angeln nicht!”, entgegnete sie entrüstet. Hal und Belgabor angeln zumindest nicht gerne. Shay hingegen meinte, sie sei erst letztlich angeln gewesen: “Auch Fische leben und sterben.”
Alle Heilerinnen haben bereits in Kriegen Verwundete versorgt und waren von der Richtigkeit ihres Tuns überzeugt – kein Wunder, denn oft genug ging es gegen das Dunkle Reich! Hal will jedoch nur noch in sehr wichtigen Fällen an einem Krieg teilnehmen, und auch Andragos meint, er habe im Verlauf seines Lebens viel zu viel Gewalt und Tod gesehen.
Dabei ist es gerade Andragos, der als einziger auch gelegentlich zur Waffe greift, um sich zu verteidigen. “Jeder Krieger sollte auch ein wenig Heiler sein, dann gäbe es weniger Leid in der Welt”, sagen Gjarrelyn und Shay. Dem widerspricht Andragos nicht. Aber umgekehrt müsse auch jede Heilerin lernen, sich zu wehren. Pazifistinnen wie Gjarrelyn, Hal und Belgabor nennt er blauäugig. “Das Verhältnis zwischen Kriegern und Heilern ist ungesund, und das kommt nicht nur daher, daß Krieger undankbar sind. Heiler bedanken sich genauso selten dafür, daß man sie vor Räubern und wilden Tieren beschützt. Oft genug laufen sie blind und unbewaffnet in ihr Verderben und erwarten, daß andere ihnen aus der Patsche helfen.”

‘Heilerin’ darf sich, so Gjarrelyn, eigentlich nur eine Person mit Fug und Recht nennen, die aus tiefster Überzeugung handelt und alle Verletzten ohne Unterschied mit gleicher Hingabe versorgt. Nach dieser Definition sind Priesterinnen bestenfalls ‘Heilkundige’ – Heilerinnen ohne Moral also. Auf die Frage, ob sie sich selbst eher als Heilerinnen oder als Heilkundige bezeichnen, reagieren Belgabor und Hal eher ausweichend. Andragos erklärt, die Heilerei sei nie sein Lebensziel gewesen und sie sei auch jetzt nicht seine wahre Profession – es habe nur stets genug Verletzte in seiner Nähe gegeben. Auf die Frage, welche der beiden Bezeichnungen denn auf sie zutreffe, ob sie nun Heilerin oder Heilkundige sei, antwortet Shay trocken: “Ich bin Magierlehrling.”

Gläubige Ceriden: bitte überspringt den folgenden Absatz! (Anm. d. Red.: Gläubige Ceriden lesen das Portal nicht!)
Welchen Religionen hängen die Heilerinnen an, und was für eien Bedeutung hat das für die oft heiß unumstrittenen Frage der Wiedererweckungen?

Hal glaubt generell an die Macht der Götter (wenn er auch keinem bestimmten anhängt), Andragos glaubt an die Elementargottheiten Gorm (Feuer), Heimdal (Erde), Nania (Wasser) und Chiron (Luft), Belgabor an die Freiheit des Geistes, Gjarrelyn an Niella, die Göttin der Heilung, und Shay an das Gute im Menschen.

Alle sind sich darüber einig, daß Wiedererweckungen schwierig und gefährlich sind – wegen der dabei entfesselten magischen Kräfte, vor allem aber, weil die Wächterin der Seelen nur zu oft die Heilerin gleich mitnimmt – und “dann verlassen die Fische den sinkenden Heiler!”, wie Gjarrelyn es ausdrückt.

Sie würde aber trotzdem – wie in der Vergangenheit auch schon geschehen – Wiedererweckungen durchführen, wenn das erforderlich sein sollte. Auch Belgabor hat keine grundsätzlichen Vorbehalte, wenngleich ihm die nötigen Kenntnisse fehlen. Diese Kenntnisse fehlen ebenso Hal und Shay, die jedoch eine deutlich kritischere Haltung einnehmen – Wiedererweckungen seien gegen die Natur und nur in den wenigsten Fällen gerechtfertigt. Andragos schließlich meint, er habe bereits an einer Wiedererweckungen mitgewirkt und eine zweite geleitet, und er wolle dieses Risiko nicht noch einmal eingehen. Der Mensch (oder was auch immer) rühre hier an Kräften, die man besser ruhen lasse. Ob er wohl das Unsichtbare meint?

Soll man Mörderinnen heilen? Ja, sagt Shay, wenn sie verspricht, sich zu bessern (würde ich an ihrer Stelle wohl auch bereitwillig tun!). Für Hal, Belgabor und Andragos kommt es sehr stark auf die Umstände an. Gjarrelyn würde ihr die Hilfe verweigern, wenn sie sich sicher ist, daß sie dadurch indirekt anderes Leben rettet.
Wie man bis jetzt wohl unschwer erkennen konnte, hat jede der befragten Heilerinnen sehr unterschiedliche Ansichten und Vorstellungen. Am klarsten tritt der jeweilige Charakter bei folgender, nicht ganz fairer Frage, zutage, die ich allen fünf Heilerinnen gestellt habe, und bei der es keine richtige oder falsche Antwort gibt: wenn sie die Wahl hätten, entweder eine Freundin, oder zwei oder drei Unbekannten das Leben zu retten, wie würden sie entscheiden?

Belgabor weigerte sich, die Frage zu beantworten, was ich ihm nicht verdenken kann. Heilung ist nur eines der vielen Gebiete, mit denen er sich beschäftigt, und wie viele von uns grübeln schon gerne über Leben und Tod nach, wenn sie nicht Tag für Tag damit konfrontiert werden?
Hal würde irgendwo anfangen, ohne nachzudenken – der Zufall würde ihm die Wahl abnehmen. Jede bewußte Entscheidung wäre eine Entscheidung gegen Leben, das er nicht zu retten vermag. Dies aber verbietet ihm die seine Sanftheit und Lebensfreude.

Ganz anders Andragos: er würde alle Fakten sorgfältig abwägen und sich dann sehr bewußt für die eine oder die andere Möglichkeit entscheiden. Die Dinge zu verdrängen hat er sich in jungen Jahren abgewöhnt, und so wird er müder und schwermütiger mit jedem Urteil, das er fällt.
Shay würde sofort ihren Freund retten – wie könnte sie auch anders handeln, sie, für die die wärmende Flamme nicht nur ein Symbol ist, sondern deren Seele selbst Wärme und Licht verbreitet.

Für Gjarrelyn hingegen spielt einzig und allein die Zahl der Leben eine Rolle – alle Wesen sind vor ihr gleich. Sie ist in der Tat eine Heilerin von ganzem Herzen: konsequent bis in jede Faser ihres Körpers, aber auch unsäglich einsam – denn sie kennt weder wahre Feinde noch wahre Freunde. Stets ist der Tod ihre eine Sensenbreite voraus, und längst sind ihre Tränen versiegt für alle jene, denen sie trotz all ihrer Kunst nicht mehr zu helfen vermag.

Erschienen in Portal 6,