„Ich erkläre, die Stände Sengenbergs sind vollständig anwesend!“
Obschon Edler Laurenz Rudolf Doloros, seines Zeichens Kanzler der Baronie, mit dieser Verlautbarung dem Zeremoniell – und gleichermaßen den Bestimmungen des Triburker-Landfriedens (lese HB 82) – genüge getan und die Vertreter der Stände allesamt mit Namen, Titeln und Ämtern angekündigt hatte, schritt Baronin Alenka Sophie nochmals leise und bedächtig einen Kreis um jenes erhobene Podest, das ihr hier, im Lichthof genannten Innenhof der Triburker Stadtburg, zum gewohnten Ausübungsort ihrer Regierungspflichten geworden ist. Um und über ihr, an den vier Innenhofwänden, drängten sich dicht an dicht die geladenen Noblen, Namhaften und Erhobenen auf ausladenden Balkonen und Balustraden dreier Etagen und glichen dabei farbenfrohen Blumenstauden oder dem vollbesuchten Betiser Opernhaus am Heliostag. Über dem namensgebend unbedachten Versammlungsort toste in menschenferner Höhe ein, ob des vielstimmigen Lärms unbemerkter, Wolken antreibender Sturm. Die Baronin, gekleidet im weiß-roten Festtagssamt, den Zopf in Kriegermanier fest geknotet, zog indessen unbeirrt und glanzvoll ihre Bahn. Im Vorbeischreiten blickte sie nochmals eingehend in die Reihen, gerade als ob sie den Wahrheitsgehalt der Aussage ihres getreuen Kanzlers um die Vollständigkeit der Anwesenden nochmals genauer prüfen wolle. Dann besah sie sich die mit bunten Bändern gar hochfeierlich geschmückten Simse, Säulen und Geländer, lächelte kurz erfreut und erklomm letztlich – und zum Aufatmen aller – das zentrale steinerne Podest. Kanzler Laurenz, würdig und fest, gewohnt nahe an ihrer Seite, eine silberne Schatulle in den Händen haltend. Mit einem Mal ward anhaltende Stille im Lichthof und gerade in jenem Moment, da diese unangenehm zu werden drohte, erhob Baronin Alenka Sophie glockenhell die Stimme zu folgender, denkwürdigen Rede:
„Sengenberger, geschätzte Vertreter der Stände. Es tut so wohl, Euch zu sehen und mit jeder Faser zu spüren, welch Kraft und Lebendigkeit uns allesamt verbindet. Jawohl, gesund und kraftvoll schlägt das Sengenberger Herz! Denn wahrlich: Zusammenhalt und Lebendigkeit, das weist uns Sengenberger aus, das sind unsere Stärken!“
Beifall brandete auf, worauf die Baronin mit wohlgesetzten Worten ihre Erinnerung daran anschloss, dass zu Beginn ihrer Herrschaft keinem der Anwesenden – und sie zählte sich selbst dazu – die verbindlichen Bestimmungen des fürstlichen Landfriedens schmeckte, gemahnte im selben Atemzug aber an die offenkundige Weisheit und Weitsicht des Fürsten – sowie insbesondere dessen Kanzlers, Giselher von Mühlenheim (lese HB 80) – was den heutigen Status-quo von „Fast so etwas wie Frieden und eingedämmten Unruhen“ gezeitigt und bewahrt habe. Während die Menge ob dieser Anschauung noch etwas disputierte, letztlich aber zustimmend brummte, stieg ihro Hochwohlgeboren vom Podest herab und wandte sich schreitend wieder direkt an die Versammelten auf den Rängen. Mit erhobenen Armen gebot sie Ruhe und wies hernach mit ausgestreckter Rechten einladend in Richtung der Nordtür:
„Sengenberger, Ihr wisst es! Es gibt einen vornehmlichen Grund, weshalb wir heut‘ und hier beisammen sind: Es wird eine Person in Eure edle Mitte rücken, die – wie einstmals ich selbst – im Moment noch fremd in diesem Lande ist, die aber Mut und Willen einer echten Sengenbergerin zeigt, Menschen und Landschaften unserer Heimat kennenzulernen. Und nicht allein das: Die trotz ihrer noch jungen Lebensjahre willens und fähig ist, als neue Vogtin Verantwortung, Fleiß und Witz für die ihr anvertrauten Menschen aufzubringen. Der Name ihres Hauses ist Euch wohlbekannt. So tretet denn vor, Edle Karlotta-Irene von Mühlenheim!“
Begleitet von Raunen sowie vielstimmigem „Ach“ und „Oh“ der Anwesenden betrat eine junge, anmutige Dame, gekleidet in feinem Samt den Lichthof. In botmäßigem Ernst, doch mit aufmerksam blickenden Augen, schritt sie zu Baronin Alenka Sophie nebst Kanzler Laurenz heran, in dichter Begleitung der ebenfalls durch die Nordtür erschienen Edlen Breanys Vanya, die, wie man sie kennt, in blitzenden Stahl gerüstet war.
Derweil wieder ihren Platz auf dem Steinpodest eingenommen, nahm Baronin Alenka Sophia die Ankömmlinge herzlich in Empfang und leitete mit den folgenden Worten die Ableistung des Lehnseides ein:
„Mit Abzug der Tharlisburger Templer auf fürstlichen Erlass, ist für die Gemarkung der vormaligen Ballei Tharlisburg hier und heute eine neue Vogtei mit neuer Herrschaft zu bestallen. So kniet nieder, Edle Karlotta-Irene von Mühlenheim. Schwört Ihr mir, Baronin Alenka Sophie von Sengenberg, Treue und Gefolgschaft? Werdet Ihr mir folgen, in Senge und in Enge? Und werdet Ihr Euch jeder Art des Ungehorsams enthalten oder Euer Lehen ohne jedwede Gewalt niederlegen, solltet Ihr meinem Willen nicht nachkommen können? Dann antwortet: ‚Ja, dies schwöre ich!“
Die Angesprochene tat, etwas bleich und demütig, wie ihr geheißen und beantwortete die an sie gerichtete Frage mit einem klaren: „Ja, dies schwöre ich, im Namen der Vier Götter!“, worauf ihre neue Lehnsherrin ihr – und gleichsam den Ständen Sengenbergs – mit vernehmbarer Freude in der Stimme zurief:
„So erhebt Euch, Edle Karlotta-Irene von Mühlenheim, Vogtin zu Mühlenberg!“
Nach Abebben der nun folgenden Beifallsbekundungen der Menge, wies Baronin Alenka Sophie ihren Kanzler an, mit der Verlesung und Übergabe des frischbesiegelten Heliosbriefes fortzusetzen. Hernach bat sie den Edlen Laurenz Rudolf Doloros, ihr aus seiner Schatulle den Ring zu geben, der dies Bündnis zusätzlich sichtbar beschließen möge, und steckte ihr allselbst den feinen Silberreif über den Zeigefinger der ausgestreckten linken Hand, nahm sie hernach herzlich in die Arme und küsste ihr zur Besiegelung des Vasallenschwurs die blasse Stirne.

Dem Leser ergebenster Diener,
Meister Schillwunk „die Feder“ Radeweyd,
Drachenhainer Hofchronist
am 7. Tag, im III. Xurlmond, 52 n.A.III

Erschienen in Helios-Bote 86